Das Knistern der Stille

Das Knistern der Stille

Radka Denemarkovás Roman erzählt vom schwierigen Umgang mit der Vergangenheit

25. 9. 2014 - Text: Volker StrebelText: Volker Strebel

 

Als Radka Denemarkovás Roman „Ein herrlicher Flecken Erde“ vor fünf Jahren in Deutschland erschien, verblüffte die Autorin mit ihrem entschlossenen Blick auf die furchtbaren Geschehnisse, die sich nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Böhmen ereigneten.

Zum Wiederlesen der Geschichte lädt nun die Taschenbuchausgabe ein, die unlängst veröffentlicht wurde. Schnell begreift man, warum das Buch so erfolgreich wurde.

Neben ihrer differenzierten Sprachkraft überzeugt die Autorin mit einer beherzten Zuwendung zur jüngeren Vergangenheit ihres Heimatlandes. Dabei berücksichtigt sie die sogenannte Aussiedlung der Deutschen nach dem Kriegsende und spart auch Tabubrüche mit der kommunistischen und national-chauvinistischen Geschichtsschreibung nicht aus. Einer sauberen Trennung zwischen verruchter Nazi-Herrschaft und einer neuen Zeit im harmonischen Frieden macht Radka Denemarková in ihrem Roman den Garaus. Dem Selbstbetrug mit einem geschönten Eigenbild, das sich während 40 Jahren sozialistischer Herrschaft in der Tschechoslowakei verselbständigt und Generationen geprägt hat, hält sie bis zur Schmerzgrenze einen Spiegel vor. Dafür steht das Schicksal von Gita, die als Jüdin von den Nazis einst verfolgt und später von Tschechen als Deutsche vertrieben wurde.

Mit großem dramaturgischen Geschick schaltet Denemarková verschiedene Erlebnisebenen ineinander. Die unmittelbare Nachkriegszeit, als die 16-jährige Gita Lauschmannová als einzige ihrer Familie aus dem Konzentrationslager in ihr Dorf zurückkehrt, korresponiert mit Gitas Rückkehr als Großmutter nach sechzig Jahren.

Brutal und kreatürlich
Eine Heimkehr in den Raum der Kindheit kann sentimental, aber auch grausam sein. In jedem Fall werden neue Blickwinkel aufgezeigt. Denemarková hat ihren Roman in sechs Rückkehren unterschiedlichen Umfangs unterteilt, dabei schildert sie entsprechend beeindruckende Szenerien.

Ein um Jahrzehnte zeitversetztes Wiedersehen der Figuren illustriert die irrige Vorstellung, man könne Geschehnisse verschweigen und Unrecht vergessen machen. Die Rückblenden im Roman belegen dies, indem sie Vergangenheit und Gegenwart ineinanderflechten. Brutal und kreatürlich zugleich fällt die Beschreibung der Heimkehr aus. Eine geschundene Kreatur, noch ein halbes Kind, soeben dem Orkus entronnen, möchte zurück in die wohlbehütete Kindheit. Oder wenigstens in ihr eigenes warmes Bett. Aber in der elterlichen Wohnung finden sich fremde Leute, die ihr alles andere als wohlgesonnen sind. Ein erneutes Martyrium schließt sich an, dem die junge Gita nur durch die Hilfe einer namenlosen Frau entkommt. Diese unbekannte, schwangere Frau wohnt mit ihrem Mann in der ehemaligen Lauschmann-Villa. Endlich zuhause, muss Gita ein weiteres Mal gegen ihren Willen verschwinden, „von dorther nach dorthin“.

Im Jahr 2005 erfährt Gita Lauschmannová in Prag, dass ihre Eltern rehabilitiert worden sind. Nach 60 Jahren kommt sie in ihr Dorf zurück, wo sie atemlosem Hass begegnet. Als Faschistin und Kollaborateurin wird sie bezeichnet, als eine alte Deutsche, die das Dorf und seine Familien in das Unglück stürzen möchte. Auch jene schwangere Frau, die Gita einst geholfen hatte, lebt noch. Ihr Sohn Daniel fädelt zunächst für die Dorfbewohner eine Strategie gegen Gita ein, um deren Ansprüche auf die Rückgabe ihres Eigentums zu vereiteln. Bald erkennt er das furchtbare Unrecht, das dieser Frau angetan wird, ja er ahnt, dass praktiziertes Unrecht gnadenlos die eigene Moral zerstört.

Große Fabulierlust
Denemarkovás genauer Beobachtungsgabe entgeht nichts und ihre Sprachbegabung lässt den Leser nicht zuletzt dank einer hervorragenden Übersetzerleistung von Eva Profousová daran teilnehmen. Man spürt den Staub des Dorfplatzes im Hochsommer und vernimmt das Knistern der Stille in der Wohnstube, das böse Gezische der Frauen, von denen nichts Gutes zu erwarten ist. Denemarková überrascht mit starken Sprachbildern, beispielsweise wenn die Mutter „ihrem Sohn ihr mit Tränen gepökeltes Taschentuch zuwirft“. Ein Erzählvorgang, heimlich und unter Bedrohung im Versteck, wird plastisch illustriert – „Durch ihre geweiteten Pupillen saugt die Frau meine Geschichte auf, stopft sie sich in die Tränensäcke unter ihren Augen“. Und als die betagte Gita wieder vor ihrem Elternhaus steht, nimmt sie sich fest vor, keine schwache Figur abzugeben, „doch aus den Fenstern kommt unangekündigt meine Kindheit herausgeklettert und watschelt auf mich zu“.

Radka Denemarková hat einen Roman von ausgezeichneter Fabulierlust vorgelegt, der sich nicht scheut, das heikle Thema der verdrängten Vertreibungen anzupacken. Von eigenartiger Aktualität ist die dumpfe Gemeinheit und ihre Entblößung des Menschen. Dass sich der junge Denis und die betagte Gita zuletzt doch recht gut verstehen, deutet auf ein Happy End hin. Aber der Leser weiß mehr und Denis auch, weil er genau hingehört hat, was ihm Gita einmal anvertraute, als sie von ihrer Strategie berichtete, wie man mit lebenslanger Niedertracht leben kann: „Die Klappe halten. Wissen Sie überhaupt, wie viel Kraft und Selbstverleugnung mich meine Freundlichkeit kostet?“

Radka Denemarková: Ein herrlicher Flecken Erde. Aus dem Tschechischen von Eva Profousová, btb-Verlag, München 2014, 304 Seiten, 9,90 Euro, ISBN 978-3-442-74671-2