Dageblieben und heimgekehrt

Dageblieben und heimgekehrt

Im Band „Bei uns verblieben“ erzählen tschechische Deutsche aus ihrem Leben

17. 10. 2013 - Text: Friedrich Goedeking, Foto: Bezirksarchiv Liberec

Als Richard Richter 1946 aus dem westböhmischen Pernartitz vertrieben wurde, war er sechs Jahre alt. Vom Viehwaggon warf er einen letzten Blick auf sein Heimatdorf. Ein Blick, der sich ihm für immer so tief eingeprägt hat, dass er 1995 nach Tschechien zurückkehrte und auf dem Grundstück, auf dem früher sein Elternhaus gestanden hatte, ein neues Haus baute. Mit den tschechischen Dorfbewohnern feierte der gelernte Zimmermann das Richtfest.

Von einem Verwandtenbesuch in der Bundesrepublik 1968 konnte die Familie von Hana Kraft wegen des Einmarsches der Truppen des Warschauer Paktes nicht in die Tschechoslowakei zurückkehren. 1997 kehrte die ehemalige Ordensschwester in ihre Heimat nach Brünn zurück. Sie war erschüttert, wie wenig Deutsche und Tschechen voneinander wissen. Mit Deutsch-Kursen und der Organisation eines Schüleraustausches will sie nun dazu beitragen, Vorurteile und Nichtwissen abzubauen.

Mit 27 Jahren ließ Martin Hřebíček seinen Namen offiziell ändern, fortan nannte sich der heute 30-Jährige Martin Maximilian Kaiser. Maximilian war der Vorname seines deutschen Ururgroßvaters, Kaiser der Familienname der deutschen Mutter. Es war die Urgroßmutter, die in ihm das Interesse am Leben seiner deutschen Vorfahren und an der Geschichte der Deutschböhmen in der Böhmischen Schweiz geweckt hatte.

„Zůstali tu s námi – Bei uns verblieben“, die jüngste Veröffentlichung der Prager Bürgervereinigung Antikomplex, berichtet von Dagebliebenen und Heimgekehrten aus drei Generationen. In Interviews erzählen sie von ihren Erfahrungen als tschechische Deutsche.

Versteckte Identität
Es ist eine vergessene Minderheit, die hier zu Wort kommt. Über die Vertreibung und Aussiedlung der Deutschen ist viel geschrieben worden. Antikomplex legt nun die erste umfassende Studie über die gebliebenen und zurückgekehrten Deutschen vor. In ihren Autobiographien erzählen sie davon, was es bedeutete, nach dem Zweiten Weltkrieg, in den Jahren des Kommunismus und nach 1989 als Deutscher in der Tschechoslowakei beziehungsweise dem heutigen Tschechien zu leben. Die sehr persönlichen Erinnerungen ergänzen drei wissenschaftliche Studien zur Geschichte, Identität und Sprache der deutschen Minderheit.

Die bittersten Erfahrungen unter diesen drei Generationen hat die älteste der heute über 75-Jährigen gemacht. Ihnen wurden Häuser und Wohnungen genommen, die Bürgerrechte aberkannt. Sie durften nicht heiraten, die Möglichkeit zur höheren Bildung wurde ihnen verwehrt. Deutsch in der Öffentlichkeit zu sprechen, war ihnen verboten. Viele von ihnen wurden aus den grenznahen Gebieten ins Innere des Landes zwangsumgesiedelt, wo sie in einem fremden Umfeld vielfältigen Schikanen ausgesetzt waren.

Für die mittlere Generation, die unter dem kommunistischen Regime aufwuchs, entfielen zwar offiziell die härtesten repressiven Sanktionen. Doch ihr Alltagsleben in einer tschechischen Umgebung war weiterhin von Diskriminierung geprägt. Ein großer Teil der deutschen Minderheit assimilierte sich an die tschechische Gesellschaft, um so den vielfachen Benachteiligungen aus dem Weg zu gehen. Um ihren Kindern eine bessere Perspektive zu ermöglichen, verzichteten sie vielmehr darauf, ihre deutsche Identität zu vermitteln.

Bekenntnis zur Wurzel
In den Interviews mit den Angehörigen der jüngsten dieser Generationen, die nach dem Ende des Kommunismus aufgewachsen ist, kommen junge Menschen zu Wort, die ihre deutsche Identität selbstbewusst leben. Sie sehen in ihren Wurzeln und der Kenntnis der deutschen Sprache einen Vorteil und eine Bereicherung. Häufig ist es die Großmutter, die ihnen den Zugang zur deutschen Sprache ermöglicht hat und die ihnen mit ihren Erzählungen von alten Traditionen und Bräuchen eine neue Welt eröffnete.

Ein Denken in nationalen Kategorien ist den Befragten fremd. „Die Nationalität spielt für mich keine Rolle“, sagt die 24-jährige Hana Tolipková. Ihre Identität verbinden die meisten  mit der Region, aus der sie stammen: Ich bin ein Egerländer, eine deutsche Mährerin, ein Deutschböhme, ein Europäer. Die im Hultschiner Ländchen, das bis 1920 zu Preußen gehörte, beheimatete Marie Zajicek sagt: „Ich bin Preußin – já jsem Pruska.“

Etwa 200.000 Deutsche sind nach 1946 nicht aus der Tschechoslowakei vertrieben worden. Sie wurden als unverzichtbare Arbeitskräfte gebraucht, entstammten Mischfamilien oder zählten zu den anerkannten Antifaschisten. Der größte Teil von ihnen reiste in den Jahrzehnten nach 1960 aus. Heute leben nur noch knapp 20.000 Personen, die sich zur deutschen Nationalität bekennen, in Tschechien. Welche Rolle kann diese kleine Minderheit für die tschechische Mehrheitsgesellschaft noch spielen? Der Leiter von Antikomplex Ondřej Matějka ist überzeugt, dass dieser Gruppe eine einzigartige Bedeutung zukommt. Sie stellt ein bemerkenswertes Bindeglied zu einer Epoche dar, in der die Deutschböhmen die Geschichte Tschechiens mitprägten. In einer zunehmend multikulturellen Welt kann es eine hilfreiche Orientierung sein, wenn an jene Zeit erinnert wird, in der das Miteinander zweier Kulturen zwar nicht spannungsfrei, aber doch möglich und fruchtbar war.

Zůstali tu s námi – Bei uns verblieben. Příběhy českých Němců/Geschichten tschechischer Deutscher.  Johanna Lindner/Corinna Malecha/Antikomplex (Hg.). Tschechisch-deutsche Ausgabe. Prag 2013 Verlag Antikomplex, 530 Seiten, 395 CZK,
ISBN 978-809-044-217-7