Chemiebranche braucht neue Produkte

Konzentration auf Grundchemikalien bringt zu wenig Wertschöpfung

3. 7. 2013 - Text: Friedrich GoedekingText: Gerit Schulze, Germany Trade & Invest; Foto: zhouxuan12345678

Tschechien ist traditionell ein starker Chemiestandort. Doch die Produktpalette beschränkt sich überwiegend auf Grundchemikalien, Mineraldünger oder Ausgangsmaterialien für die Kunststoffproduktion. In diesem Sektor sind die Margen gering und die Wertschöpfung niedrig. Das soll sich nach dem Willen der Regierung ändern, bislang allerdings mit wenigen Fortschritten. Als Absatzregion für deutsche Chemieprodukte bleibt Tschechien dagegen äußerst interessant.

Fast 160 Mrd. Kc Umsatz (rund 6,4 Mrd. Euro) haben die tschechischen Hersteller von chemischen Erzeugnissen 2012 erzielt. Das war ein sattes Plus von fast 18 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Der Löwenanteil entfällt jedoch auf chemische Grundstoffe, auf Düngemittel und Kunststoffe in Primärformen – Produkten also, die keine große Wertschöpfung enthalten. „Die Chemieindustrie in Tschechien hat eine lange Tradition und verfügt deshalb über sehr gut ausgebildete Fachkräfte“, beschreibt Filip Dvorak, Sprecher von BASF in Prag, die Vorzüge des Standortes. „Doch der Übergang von hochvolumigen Produkten zu innovativeren Produkten ist noch lange nicht abgeschlossen.“

Rund 2.000 Unternehmen zählt das Ministerium für Industrie und Handel heute zur klassischen Chemieindustrie. Hinzu kommen knapp 40 Raffineriebetriebe, etwa 50 Pharmahersteller und fast 5.000 Kunststoffverarbeiter. Die Regierung plant, sich in der Branche wieder stärker zu engagieren. Besonders der Verkauf der Raffinerien in Kralupy nad Vltavou, Litvinov und Pardubice an ausländische Investoren unter Federführung der polnischen PKN Orlen wird in letzter Zeit häufiger kritisiert.

Nach Meinung von Regierungsexperten stecken die neuen Eigentümer zu wenig Mittel in die Entwicklung der tschechischen Ölverarbeitungsbetriebe. Die einheimische Petrochemie verliere daher an Wettbewerbsfähigkeit. Es wird diskutiert, die beiden staatlichen Pipeline- und Öltankbetreiber Mero CR und Cepro mit der Raffineriegruppe Ceska Rafinerska zu fusionieren, um so einen schlagkräftigen, nationalen Chemie-Champion zu schaffen. Ob die bislang privaten Eigentümer der Petrochemie da mitspielen ist aber fraglich.

Attraktiv ist Tschechien besonders als Absatzmarkt für chemische Erzeugnisse. Unter Berücksichtigung von Erdölprodukten sowie Gummi- und Polymererzeugnissen wurden 2012 in Tschechien Waren für 25,2 Mrd. Euro abgesetzt. Der Nachholbedarf der Bauindustrie nach Dämm- und Isoliermaterialien, Baumischungen sowie Farben und Lacken sorgte in den letzten Jahren für große Wachstumsraten. Heute ist besonders die starke Automobilbranche mit einem Jahresausstoß von 1,2 Millionen Fahrzeugen ein dankbarer Abnehmer. Die Branche braucht Plastikteile, Chemiefasern, Spezialbeschichtungen für die Karrosserien oder Kühlmittel für die Klimaanlagen. „Im Moment ist die Autoindustrie unser wichtigster Umsatzbringer hier in Tschechien“, erklärt BASF-Sprecher Dvorak.

Der Konzern aus Ludwigshafen hat in den letzten Jahren zwischen Pilsen und Brünn jeweils zweistellige Umsatzzuwächse erzielt. Allein 2012 stiegen die Verkaufszahlen um 30 Prozent auf 522 Millionen Euro.

Pharmahersteller spüren die schwache Binnennachfrage

Weniger dynamisch verläuft im Moment die Nachfrage aus dem Gesundheitssektor, teilt die Prager Niederlassung des deutschen Bayer-Konzerns mit, der mit seiner Pharmasparte die Flaute besonders spürt. Nach Berechnungen von Germany Trade and Invest ist Tschechiens Marktvolumen für Arzneimittel 2012 um 5 Prozent auf 2,8 Mrd. Euro geschrumpft. Die stagnierenden öffentlichen Ausgaben für das Gesundheitswesen und die schwache Einkommensentwicklung dämpfen das Geschäftsklima. Davon sind aber die Importeure weniger stark betroffen als die einheimischen Medikamentenhersteller, deren Umsätze im Vorjahr um fast ein Zehntel gesunken sind.

Besser laufen die Geschäfte mit Agrarchemikalien. „Seit zwei Jahren beobachten wir hier einen steigenden Bedarf an Pflanzenschutzmitteln“, sagt Daniela Mienack, die die Bayer-Sparte CropScience in Tschechien leitet. Die hohen Preise für Agrarrohstoffe haben den Landwirten deutlichen Auftrieb gegeben. „Um ihre Erträge zu steigern, investieren sie deshalb in Dünger, Saatgut und Pflanzenschutzmittel“, so Mienack.

Die großflächige Struktur der Agrarbetriebe in Tschechien begünstige den Einsatz von Agrarchemikalien, so die Marktkennerin. Viele Landwirte seien im europäischen Wettbewerb absolut konkurrenzfähig. Leider gehörte die Branche bislang nicht zu den Prioritäten der Regierung in Prag und wurde entsprechend wenig gefördert, bedauert Bayer-Managerin Mienack.

Vor allem dank seiner Haushaltschemie hat ein anderer deutscher Branchenriese, Henkel, ein Rekordjahr in Tschechien hinter sich. Die Umsätze sind 2012 um fast 2 Prozent auf 4,3 Mrd. Kc (170 Millionen Euro) gestiegen. „Am stärksten war der Zuwachs bei Wasch- und Reinigungsmitteln“, teilte die Generaldirektorin von Henkel CR, Jaroslava Haid-Jarkova, auf Anfrage mit. Als einziger Anbieter konnte Henkel auch seinen Marktanteil ausbauen. Tschechien gehört damit in diesem Produktsegment zu den drei erfolgreichsten Auslandsmärkten für den Düsseldorfer Konzern.

Für die Zukunft sieht Henkel in Tschechien weiteres Wachstumspotenzial bei Haushaltschemie. Allerdings gehe der Trend hin zu spezialisierteren Produkten, beobachtet Haid-Jarkova. „Früher haben die Kunden nur Universalwaschmittel benutzt. Jetzt kaufen sie auch spezielle Mittel für dunkle Wäsche oder für Wolle.“ Um Zeit und Geld zu sparen, greifen die Tschechen außerdem häufiger zu vordosierten Gelkapseln. Gute Absatzmöglichkeiten sieht die lokale Henkel-Chefin ebenso bei Produkten für Geschirrspüler. „Derzeit haben weniger als ein Drittel der tschechischen Haushalte eine Spülmaschine. In Westeuropa sind es 70 Prozent. Es ist klar, dass dieses Segment kräftig wachsen wird.“
Deutsche Investoren bislang mit wenig Engagement

Trotz aller Umsatzerfolge hat Henkel in Tschechien keine eigene Produktionsstätte und hegt keine Pläne für eine eigene Fabrik vor Ort. Auch Bayer richtet seinen Fokus hierzulande nur auf Marketing und Vertrieb. Anders als in vielen anderen Branchen wie der Fahrzeugindustrie, der Metallverarbeitung oder dem Maschinenbau, ist Tschechien für die deutschen Chemiebetriebe offenbar kein vorrangiger Investitionsstandort.

BASF-Sprecher Dvorak meint, dass die Konzerne sich vor allem auf die großen Wachstumsmärkte in Asien konzentrieren und dort Produktionsstätten aufbauen. In Tschechien hatte BASF 2006 von Degussa ein Werk für Bauchemikalien in Chrudim bei Pardubice übernommen. Dort produziert das Unternehmen Betonzusätze, Dämm- und Isoliermaterialien, Putze, Dichtungsmittel und Beschichtungen.

Der Konzern sieht durchaus noch weitere Investitionsmöglichkeiten, vor allem in innovativen, neuen Branchen. „Zum Beispiel ist Tschechien in der EU eine Ausnahme in der überaus positiven Einstellung zu Biotechnologien“, sagt Manager Dvorak. Neue Geschäftsfelder sieht BASF in Tschechien ebenso auf dem Gebiet der Nanotechnologie.

Doch das ist noch Zukunftsmusik. Aktuell muss die Chemieindustrie zwischen Böhmerwald und Beskiden die Rezession im Land überstehen. Laut Verband der chemischen Industrie (SCHP CR) wird die Branche 2013 noch von den relativ guten Vorjahresergebnissen zerren. Zwar habe sich die Situation in wichtigen Abnehmerbranchen wie Automobil-, Elektronik- und Bauindustrie verschlechtert, teilte Verbandschef Ladislav Novak auf Anfrage mit. Doch einen Umsatzeinbruch der Chemiebetriebe erwartet er nicht.

Ein Blick auf die Auftragseingänge der Branche trübt jedoch das Bild. Tschechiens Hersteller von chemischen Grunderzeugnissen mussten in den ersten vier Monaten 2013 einen Rückgang von 2 Prozent bei den Neubestellungen verkraften. Bei den Pharmaherstellern brachen die Aufträge im Januar und Februar zunächst um über 10 Prozent ein, um dann im März und April wieder um über 10 Prozent anzuziehen. Auffällig ist, dass die Neubestellungen aus dem Ausland weniger stark sinken als die Ordereingänge von einheimischen Kunden.

Das könnte die Außenhandelsbilanz etwas aufpolieren. Denn anders als die Gesamtwirtschaft verzeichnet Tschechien bei Chemieprodukten ein großes Handelsbilanzdefizit. Wurden 2012 Chemikalien, Kunststoffe, Arzneimittel und Düngemittel für 12,1 Mrd. Euro importiert (SITC-Gruppe 5), so konnten böhmische und mährische Hersteller im Gegenzug nur Waren für 7,3 Mrd. Euro durch Exporte erlösen.

Der Chemieverband SCHP CR fordert seit Jahren ein Umschwenken der einheimischen Betriebe hin zu mehr Innovationen, um so die Wettbewerbsfähigkeit auf den Außenmärkten zu erhöhen. Die Unternehmen müssten sich mehr auf Spezialchemie, Hightechprodukte und Erzeugnisse mit höherer Verarbeitungstiefe konzentrieren, so Branchenlobbyist Novak.
Bei Litvinov entsteht Forschungszentrum für innovative Polymere

Immerhin gibt es einige hoffnungsvolle Projekte: So baut Unipetrol bis 2014 das Forschungs- und Bildungszentrum UniCRE im Chempark Zaluzi bei Litvinov auf. Dort sollen 85 Spezialisten neue Technologien für die Petrochemie entwickeln, mit denen innovative Polymermaterialien produziert werden können. Außerdem liegt ein Schwerpunkt auf der effizienteren Nutzung von nachwachsenden Rohstoffen. Das Projekt wird mit Mitteln aus EU-Fonds und dem Staatshaushalt in Höhe von über 20 Millionen Euro gefördert.

Auch andere Chemiebetriebe stecken weiter Geld in die Modernisierung ihrer Produktion. Hersteller von Grundchemikalien (NACE 20) haben 2012 umgerechnet 350 Millionen Euro für langlebige Vermögensgüter ausgegeben. Das war über ein Viertel mehr als im Jahr zuvor. Die Kunststoff- und Gummiindustrie hat ihre Anlageinvestitionen um 20 Prozent auf 480 Millionen Euro ausgeweitet. Nur bei den Pharmabetrieben gingen die Investitionen um 12 Prozent auf knapp 90 Millionen Euro zurück.

In den kommenden Monaten starten weitere Großvorhaben. Unipetrol will ab 2014 in Litvinov eine weitere Polyethylenproduktion errichten. Spolchemie plant, noch in diesem Jahr mit dem Bau einer Chlor- und Hydroxidanlage in Usti nad Labem zu beginnen. Lovochemie modernisiert seine Düngemittelproduktion und errichtet eine neue Produktionslinie für Kalksalpeter.

Viele Investitionen fließen derzeit auch in die Verbesserung der Umweltbilanz der Chemiebetriebe. Synthesia aus Pardubice, die Pigmente und Additive für Farben produziert, rüstet ihr Kohlekraftwerk auf Biomasse und Erdgas um. Außerdem baut das Unternehmen eine Entschwefelungsanlage.

Die Unternehmen Spolana und Spolchemie müssen nach Behördenauflagen ihre Quecksilberproduktion einstellen und planen nun Ersatzinvestitionen. Der Rohbenzolverarbeiter Deza hat im Frühjahr ein Investitionsprogramm für fast 15 Millionen Euro angekündigt, um die Energie- und Ökobilanz der Produktion im mährischen Valasske Mezirici zu verbessern.

Auch die Beseitigung von Altlasten der Chemieindustrie aus sozialistischen Tagen dauert an. Größtes Projekt ist aktuell die so genannte „Lagune Ostrama“. In der Nähe von Ostrava wurden bis Ende des 20. Jahrhunderts etwa 200.000 Tonnen Raffinerieabfälle eingelagert. Die Sanierung der Ölschlammlachen auf einer 12 ha großen Fläche kostet fast 200 Millionen Euro. In diesem Falle kommt Tschechien seine lange Tradition als Chemiestandort teuer zu stehen.