Bewunderung für die Normalität

Bewunderung für die Normalität

Zwei Ausstellungen gewähren Einblick in den Alltag mit körperlichen und psychischen Beeinträchtigungen

19. 6. 2013 - Text: Peggy LohseText und Foto: Peggy Lohse

 

Was ist eine Behinderung? Und was ist eigentlich normal? Dieser Frage widmet sich die Ausstellung „Postiženi normalitou“ („Behinderung durch Normalität“) im Zentrum für Gegenwartskunst DOX. In Zusammenarbeit mit dem Jedlička-Institut (Institut und Schule für junge Menschen mit physischer Behinderung), das in diesem Jahr sein 100-jähriges Bestehen feiert, entstand eine inhaltlich und räumlich umfangreiche Schau, die weit über den alltäglichen Gebrauch des Wortes „Behinderung“ hinausweist.

Sie beginnt ganz allgemein mit einer Auseinandersetzung mit den Stereotypen von Behinderung und Abnormalität. Wie wird mit diesen umgegangen und wie sollte mit ihnen umgegangen werden? In dem Video „N.O. Body“ von Pauline Boudry und Renate Lorenz hält ein Mann – mit dichtem Bart, langen Haaren, ausladendem Dekolleté und in barocken Frauenkleidern – eine Vorlesung über sexuelle Identität und ihre Geschichte. Sein Referat endet in einem hysterischen Lachanfall. Ist das richtig? Darf er das? Ist das normal? Dem steht mit starkem Einfühlungsvermögen die Videoarbeit „Ein Brief über die Blinden zum Nutzen derer, die sehen“ von Javier Téllez gegenüber. Hier beschreibt ein Blinder, während er einen Elefanten „erfühlt“, wie er erkennt: mit Hilfe von Geräuschen und Vergleichen dessen, was er ertastet. Darauf folgt der Abschnitt „Moralisches Risiko“ mit Fotografien unter anderem von Joanna Pamlik und Artur Żmijewski. In ihren Zyklen „Zwillinge“ und „Auge um Auge“ fragen sie nach den Grenzen für die Abbildung körperlich beeinträchtigter Menschen.

In den folgenden Abschnitten werden „Institutionalisierung“, „Historisierung“ und „Mediziniserung“ von Behinderung dargestellt. Neben der Entwicklung des Prager Jedlička-Instituts und den zugehörigen Schulen wird auch die Skulpturen- und Grafikensammlung von Hans Würtz gezeigt. Würtz gehörte zu jenen wenigen, die sich zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts in Deutschland für die Pflege behinderter Menschen einsetzten.
Die gesellschaftliche Diskussion über Normalität und Behinderung wird am Ende des Rundganges sowohl praktisch als auch künstlerisch angeschnitten. Bart Hess mit seinen „Mutanten“ und Sara Hendren mit ihren „Ganzkörpersocken“ veranschaulichen die Gefangenschaft eines jeden Einzelnen in seinem Körper und die mit diesem verbundenen, unüberbrückbaren Grenzen. Im Film „Der Freak-Code“ gibt das „WTA Kollektiv“ einen Überblick über den Umgang mit Behinderung in Hollywoodfilmen, wie zum Beispiel „Rain Man“ oder „Million Dollar Baby“. Ihre Kritik an Hollywood: Behinderung ist entweder aggressiv, lächerlich oder bemitleidenswert. Niemals jedoch normal. Wichtig sei es demnach zu zeigen, wie diese Normalität aussieht.

Nicht weit entfernt vom DOX kann gerade hiervon ein weiterer praktischer Einblick gewonnen werden. Die interaktive Ausstellung „Moje cesta“ („Mein Weg“) im Pavillon E auf dem Messegelände in Holešovice gibt Kindern und Erwachsenen die Möglichkeit, über 20 unterschiedliche Alltagssituationen aus der Perspektive eines Menschen mit einer körperlichen Beeinträchtigung zu erleben: Wie bekomme ich, im Rollstuhl sitzend, die Wäsche aus der Waschmaschine? Wie funktioniert eine Braille-Schreibmaschine? Wie nimmt man ohne Gehör die Welt wahr?
Der Besucher lernt mit Blindenstock oder Rollstuhl im nachgestellten Straßenverkehr jede Bordsteinkante und jede Straßenquerung als Herausforderung kennen. Was am Ende all dieser Eindrücke wächst, ist nicht Mitleid, sondern Verständnis und besonders Bewunderung für all diejenigen, die das ganz normale Leben unter diesen erschwerten Bedingungen meistern.

Behinderung durch Normalität. DOX (Poupětová 1, Prag 7), geöffnet: Mo., Sa./So. 10–18 Uhr, Mi.–Fr. 11–19 Uhr (dienstags geschlossen), Eintritt: 180 CZK (ermäßigt 90 CZK), bis 16. September

Mein Weg. Messegelände Holešovice, Pavillon E, geöffnet: Mo.–Sa. 9–18 Uhr (sonntags geschlossen), Eintritt frei,
bis 29. Juni

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