Literatur

Berlin mit Prager Augen sehen

Berlin mit Prager Augen sehen

In „Das Glück meines Lebens“ sucht die Autorin Edda Gutsche nach Spuren Prager Schriftsteller in Berlin

1. 12. 2016 - Text: Jan Nechanický, Foto: F. Hofmann

Wer heute für eine deutschsprachige Zeitung in Prag schreibt, kann sich vielleicht am ehesten vorstellen, was Autoren vor fast hundert Jahren nach Berlin gezogen hat. Ohne dass man sich mit ihnen vergleichen möchte – es waren wohl dieselben Gründe, aus denen deutschsprachige Schriftsteller, Journalisten und Künstler von der Moldau an die Spree emigrierten, die auch heute von Bedeutung wären.

Als Egon Erwin Kisch, Willy Haas oder Victor Hadwiger nach Berlin gingen, taten sie es, weil ihnen in Prag die Leser fehlten. Zwar waren um die Jahrhundertwende zehn Prozent der Prager Bevölkerung deutschsprachig – in Böhmen erschienen sogar mehrere deutschsprachige Zeitungen –, doch in Berlin wartete ein ungleich größeres Publikum auf sie.

Die Autoren wollten beruflich weiterkommen und sich auf dem bedeutenden deutschsprachigen Buch- und Zeitungsmarkt durchsetzen. Und: Berlin war kosmopolitischer als die böhmische Hauptstadt. Die Möglich­keiten­, die die damals drittgrößte Stadt der Welt bot, faszinierte die Prager. Dazu gehörten auch die zahlreichen avant­gardistischen Verlage, bei denen wichtige Literatur­zeitschriften wie „Die Aktion“ oder „Der Sturm“ erschienen. In solchen Magazinen konnte manch ein zugewanderter Böhme seine Texte veröffentlichten.

In sechs kurzen Kapiteln verfolgt Edda Gutsche, die bereits einen literarischen Reiseführer durch Brandenburg veröffentlicht hat, die Berliner Schicksale ausgewählter Prager Autoren. Zu den drei bereits erwähnten Literaten kommen Rainer Maria Rilke, Franz Carl Weiskopf und Franz Kafka dazu. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit suchte Gutsche nur Autoren aus, die in Prag geboren und aufgewachsen sind und wichtige Lebensabschnitte in Berlin verbrachten. „Wie haben die Prager Literaten die deutsche Metropole gesehen? Was haben sie dort erlebt, wem sind sie begegnet? Wie sehen heute die Orte und Häuser aus, die sie besucht und in denen sie gewohnt haben?“ Es sind solche Fragen, die die Publizistin bei ihrer Recherche beschäftigten.

Goldene Zwanziger
Auf der Suche nach Antworten schöpft Gutsche vor allem aus biografischen und autobiografischen Quellen und beschäftigt sich mit den Lebensumständen der Protagonisten. Es geht weniger um Literatur als darum, wie es für die Prager war, in die Weltstadt einzutauchen, dort zu leben und sie für sich zu ent­decken. Wer ein literaturwissenschaftliches Werk erwartet, wird dementsprechend enttäuscht sein. Dennoch enthält das Buch Gedichte von Rainer Maria Rilke und Victor Hadwiger, die in Berlin entstanden sind. Außerdem beschreibt Gutsche die Ent­stehung mehrerer weiterer Werke.

Der Autorin gelingt es in den sechs Portäts, die Atmosphäre der Goldenen Zwanziger einzufangen. Denn es war überwiegend jene oft glorifizierte Epoche, in der sich die Prager Schriftsteller nach Berlin begaben. Ein Jahrzehnt, in dem alles möglich schien, und das doch tragisch endete. Es war eine Zeit mit Höhen wie dem blühenden kulturellen Leben und einem wachsenden Buch- und Zeitungsmarkt sowie vielen Tiefen, die sich in Inflation, Wirtschaftskrise und Armut niederschlugen.

Vor allem die Kapitel über Egon Erwin Kisch und Willy Haas sind Porträts, die von einem erfüllten und dennoch schwierigen Leben erzählen. Die Zitate aus Haas’ Korrespondenz und Tage­büchern erhalten außerdem einige der schönsten Liebes­erklärungen an Berlin und an das Großstadtleben im Allgemeinen, von denen eines als Vorlage für Gutsches Buchtitel diente: „Berlin war das Glück meines Lebens. Ich liebte die schnelle, schlagfertige Antwort der Berlinerin über alles, die scharfe, klare Reaktion des Berliner Publikums im Theater, im Kabarett, auf der Straße, im Kaffeehaus, das Nichts-feierlich-Nehmen und doch Ernstnehmen von Dingen […] die Bereitschaft, schwere Schläge einzustecken – und weiterzuleben. In Berlin konnte man von allem leben, was man wirklich konnte“, so Haas in seinen Erinnerungen.

Kafka beim Frühstück
Auch andere Kapitel lesen sich spannend, gerade weil es um weniger bekannte Autoren wie Victor Hadwiger geht. Auf den Teil über Franz Kafka hätte Gutsche dagegen auch verzichten können. Der berühmteste der vorgestellten Autoren verbrachte eine verhältnismäßig kurze Zeit in Berlin. Während andere wie Haas oder Kisch mehrere Jahre dort lebten, blieb Kafka nur einige Monate. Dass man über diese zwar produktive aber eher durch Krankheit und Armut geprägte Lebensphase weniger schreiben kann, als über den bewegten Aufenthalt der zwei erwähnten Journalisten, merkt man an Sätzen wie diesen: „Kafkas Tage waren sehr kurz. Gegen neun Uhr stand er auf, nahm gegen elf Uhr sein Gabelfrühstück, aß später zu Mittag und ruhte vor allem in den Nachmittagsstunden.“ Das ist etwas zu banal, um den Leser in den Bann zu ziehen.

Über die rührende Geschichte von einem kleinen Mädchen, das seine Puppe verlor und dem Kafka wochenlang Briefe schrieb, möchte man wiederum mehr erfahren. Diese wird jedoch nur in einem Kasten eingefügt und nicht weiter ausgeführt. Das Kafka-Kapitel erscheint als eine Art Anekdotensammlung, die zuweilen aber – und das muss man der Autorin zugute halten – trotzdem interessante Einblicke in das Innenleben des Schriftstellers bietet.

Unterm Strich bleibt der posi­tive Eindruck eines gut recher­chierten und angenehm lesbaren literarischen Reiseführers durch die deutsche Metropole der 1920er Jahre. Das Buch dürfte Berlin-Fans sowie Literatur­liebhaber gleichermaßen erfreuen und zu Entdeckungsreisen durch die Hauptstadt ermutigen. Gutsche lädt sogar explizit zu zwei solchen „literarischen Spaziergängen“ ein, die dem Hauptteil angehängt sind: Durch den „Neuen Westen“ und durch Böhmisch-Rixdorf mit Egon Erwin Kisch.

Edda Gutsche: Das Glück meines Lebens. Prager Schriftsteller in Berlin. Verlag für Berlin-Brandenburg, Berlin 2016, 152 Seiten, 18 Euro, ISBN 978-3-945256-61-9

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