Bedrohlicher böhmischer Boden
Jörg Bernigs Roman „Niemandszeit“ führt in einen vergessenen Ort im Dreiländereck
8. 10. 2014 - Text: Volker StrebelText: Volker Strebel
Der Schauplatz von „Niemandszeit“ befindet sich im Niemandsland des Grenzgebiets zwischen Deutschland, Polen und der Tschechoslowakei, irgendwann in den Monaten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Es war die Unzeit der gewaltsamen Vertreibung der deutschen Einwohner. Der Roman beginnt mit dem 3. September 1946, einem für die Protagonisten schicksalhaften Tag. Über acht Kapitel hinweg wird aus der Sicht unterschiedlicher Charaktere das bislang Geschehene dargestellt. Schließlich endet der Roman wieder am Tag des 3. September.
Der Autor Jörg Bernig erweist sich als ein geschickter Kompositeur. Mit kluger Hand vermag er die Fäden der Akteure zu führen und ohne gewaltsames Zutun aufzuzeigen, warum alles so kommen musste, wie es gekommen war.
Das Zusammenleben zwischen Deutschen und Tschechen in der ersten tschechoslowakischen Republik wird in der Retrospektive aus der Sicht tschechischer wie deutscher Personen geschildert. Eine klare Trennung zwischen diesen Volksgruppen zeichnete sich erst in der Phase der Bedrohung dieses Zusammenlebens aus, sehr zum Unverständis von Tomáš Anděl, der das deutsche Mädchen Theres liebt. Deren Vater wiederum hatte dafür Sorge getragen, dass sie Tomáš nicht mehr treffen konnte. War er verhaftet worden? Zur Zwangsarbeit ins „Reich“ verschickt?
Derlei Überlegungen werden in einem namenlosen kleinen Ort angestellt, der, so hofft ein zusammengewürfeltes Häuflein vom Schicksal Gebeutelter, von der Weltgeschichte übersehen wurde. Die Geschichte liegt in jenen Tagen in den Händen sogenannter Revolutionsgardisten, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, das böhmische Land ein für allemal von fremden Stimmen zu säubern. Eine historische Mission, die ihnen von den Nachkommen dereinst gedankt werden wird: „Die Landschaft stand leer. Sie stand leer durch die geleerten Orte in ihr. Es war die Arbeit der Revolutionsgarde, die Orte zu säubern. Die Menschen dort hatten es nicht anders verdient. Selbst wenn sie keine Verbrecher waren im Einzelnen, waren nicht von den Ihren Verbrechen begangen worden? Wo sollte da die Unterscheidung beginnen?“.
Selbst ein Tomáš Anděl, der nach dem Krieg verzweifelt auf der Suche nach seiner deutschen Theresia war, dachte nicht anders. Das war nicht immer so gewesen. Aber auch Theresias Vater hatte umgedacht. Nach dem Münchner Abkommen, als die Tschechoslowakische Republik von Europa im Stich gelassen wurde, begann er in einem Ton zu reden, „den sie nicht von ihm kannte, den sie nur bei den Henlein-Leuten gehört hatte, wie Mutter sie nannte, von ihrem Vater aber kannte sie ihn nicht. Auch er sprach nun von den tauglichen Tschechen, aus denen etwas werden könne, die eingedeutscht, die umgevölkert werden könnten, er sagte das, umgevolkt, weil sie die Merkmale aufwiesen, die einem Deutschen eigen waren: blondes Haar, blaue Augen, die edlere Schläfenform und der Wille zur Arbeit, zur Tat“.
Ende einer Idylle
In „Niemandszeit“ haust eine Schicksalsgemeinschaft von jungen Menschen, Deutsche wie desertierte Revolutionsgardisten, im Auge des Orkans, wo es bekanntlich windstill ist. Mit poetischer Kraft schildert Bernig Bilder eines erhabenen Stillstands in der Natur: „Das Licht zwischen den Bäumen hatte die Farbe eines Eidechsenrückens, es war ebenso samtig und lag wie grüner Nebel um die Stämme“ – Bilder einer Idylle, die wie jede echte Idylle in ständiger Bedrohung lebt. Und diese Idylle wird tatsächlich in der Katastrophe enden! Auf tschechischer Seite hatte der Schriftsteller Jaroslav Durych bereits 1955 mit dem Roman „Gottes Regenbogen“ Bilder des Grenzlandes aufgezeichnet, die in ihrer öden Trostlosigkeit an die „verbotene Zone“ in Andrej Tarkovskijs Kinofilm „Stalker“ erinnern.
Auch in Jörg Bernigs Familie hatte es Vertriebene gegeben und die politische Wende 1989 verhinderte, dass aus Jörg Bernig ein DDR-Schriftsteller geworden wäre, der das Wort „Vertreibung“ nicht hätte benutzen dürfen. Sein Roman „Niemandszeit“ wendet sich einem schrecklichen Kapitel in der deutsch-tschechischen Geschichte zu. Eine melancholische wie auch poetische Sprache entwindet sich erfolgreich allen Formen ideologisierter Erinnerungsdiskurse. Als 2002 „Niemandszeit“ erstmals erschien, sorgte das Buch weit über die Landesgrenzen hinweg für Aufmerksamkeit. Im Laufe der Jahre war der Roman mit Preisen ausgezeichnet und in mehrere Sprachen übersetzt worden. Die nun erschienene Neuauflage des Buches lädt abermals zum Lesen ein.
Jörg Bernig: Niemandszeit. Mitteldeutscher Verlag, Halle/Saale 2014, 248 Seiten, 14,95 Euro, ISBN 978-3-95462-356-3
„Markus von Liberec“
Geheimes oder Geheimnistuerei?