Aufrichtigkeit und Lebensfreude
In „Das Jahr des Hahns“ verarbeitet Tereza Boučková ihre eigene Lebensgeschichte. Der Roman erschien zuletzt auf Deutsch
11. 8. 2016 - Text: Volker Strebel, Foto: Lubomír Moravec
Tereza Boučková war 19 Jahre alt, als sie die Charta 77 unterschrieb. Als jüngste Unterzeichnerin des Bürgerrechtsmanifestes durfte sie nicht studieren. Die Tochter des ebenfalls vom Regime verfemten Schriftstellers Pavel Kohout musste sich ihren Lebensunterhalt als Hausmeisterin und Putzfrau verdienen.
Ihr zuletzt ins Deutsche übersetzter Roman „Das Jahr des Hahns“ enthält nicht nur im Titel – „Hahn“ heißt auf Tschechisch „Kohout“ – Anspielungen auf Boučkovás eigenes Leben. Aus der Ich-Perspektive erzählt die Autorin von einem schwierigen Lebensabschnitt, in dem sich Privates mit Politischem vermischt. Eine Verquickung, die das gesamte Leben von Boučková durchzieht.
Im „Jahr des Hahns“ sind die Begebenheiten aus der Zeit der totalitären ČSSR zwar längst Vergangenheit und die geschilderten Erlebnisse spielen sich in einem demokratischen Land ab. Dennoch erinnert sich die Erzählerin immer wieder an jene Jahre, in denen sich auch die Frauen der Bürgerrechtsbewegung nicht dem rücksichtlosen Regime beugen wollten. Das damalige Unrecht wurde nie richtig aufgearbeitet – Boučková führt so manche moralische Fehlentwicklungen in ihrem Land darauf zurück.
Im Roman wohnt die Erzählerin in einem kleinen Dorf in der Nähe von Prag. Von einer ländlichen Idylle kann allerdings keine Rede sein. Ihre pubertierenden Söhne überraschen sie immer wieder. Patrik und Lukáš, die die Erzählerin mit ihrem Ehemann Marek einst adoptierte, enttäuschen durch ihr vollkommen gleichgültiges Verhalten. Sie lügen, stehlen und nehmen Drogen; reden kann sie mit ihnen nicht. Die junge Frau wird von den beängstigenden Verhaltensmustern geradezu in die Verzweiflung getrieben. Sie zermartert sich auf der Suche nach den Ursachen für die Fehlentwicklungen der beiden Roma-Kinder. Mit wachem Interesse sieht sie im Fernsehen die ernüchternde Dokumentation „Vierka“ über eine tschechische Roma-Familie. Die geschilderten Probleme kennt sie aus eigener Erfahrung nur zu gut: „Warum versuchen sie nicht zu haushalten? Warum essen, rauchen und geben sie alles sofort aus, wenn sie es bekommen? Warum planen sie nicht für mehrere Tage im Voraus? Warum tun sie nicht etwas? Warum arbeiten sie nicht? Verdienen nichts? Warum wollen sie sich nicht um sich selbst kümmern? Warum, warum, warum?“
Die Probleme mit Patrik und Lukáš belasten auch die Ehe mit Marek, den die Erzählerin aufrichtig liebt. Und nicht zuletzt versucht sie verzweifelt, ihre Schreibfähigkeit zu erhalten. Ein längst zu Ende gedachtes Drehbuch macht ihr zu schaffen. Wann es endgültig niederschreiben? Und wird es auch angenommen werden? Ihr Produzent hält sie hin und kann dann doch keine Mittel für ihren Film auftreiben. Wohin die nicht mehr ganz junge Frau auch blickt, sie scheint sich auf schwankendem Boden zu befinden. Umso beeindruckender fällt ihre Hartnäckigkeit aus, sich den immer wieder eintretenden Niederlagen und Rückschlägen entgegenzusetzen. Es sind anscheinend kleine Szenen aus dem Alltag, aus denen sie Kraft zu schöpfen vermag. Regelmäßig singt sie in einem jüdischen Chor, um auf andere Gedanken zu kommen, besucht ihre Mutter in Prag oder genießt zusammen mit ihrem Mann Radtouren mit Freunden.
Die dichte Sprache, oft voller Emotionen und Reflexionen, wirkt geradezu mitreißend. Trotz der Schicksalsschläge und bei aller Zerrissenheit der Erzählerin geht von dieser Prosa eine merkwürdige Kraft aus. Im Lauf der Geschichte gewinnt eine eindrucksvolle Persönlichkeit zunehmend an Konturen, der man nur mit Bewunderung und Respekt begegnen kann. „Das Jahr des Hahns“ ist in seiner ungestümen Wucht ein beachtlicher Roman – ein Plädoyer für Aufrichtigkeit und Lebensfreude.
Tereza Boučková: Das Jahr des Hahns. Aus dem Tschechischen von Ulrike Helmke. Karl Rauch Verlag, Düsseldorf 2015, 393 Seiten, 22 EUR, ISBN 978-3-7920-0364-0
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