Ambivalente Allianz

Ambivalente Allianz

Vor 15 Jahren, am 12. März 1999, trat Tschechien dem Nordatlantischen Verteidigungsbündnis bei. Eine Bilanz

12. 3. 2014 - Text: Tomáš KolomazníkText: Tomáš Kolomazník; Foto: NATO

15 Jahre sind seit dem Beitritt Tschechiens in die NATO vergangen. Dieses Jubiläum ist sicher keines, das die tschechische Gesellschaft bewegen würde. Im Gegenteil: Man könnte das Ereignis sogar getrost als „traumatisierend“ bezeichnen.
Betrachtet man das zurückliegende Jahrhundert, braucht man sich darüber nicht zu wundern. Unser Land hat in dieser Zeit mehrere Zäsuren erlebt, die zum Verlust der Souveränität oder der territorialen Integrität geführt haben – egal ob man an das Jahr 1938, 1939 oder auch 1968 denkt. Im Bewusstsein dieser historischen Erfahrung fußen denn auch die außen- und sicherheitspolitischen Prinzipien nach der Wende im Jahr 1989. Die Hauptarchitekten unserer Außenpolitik hießen damals Václav Havel und Jiří Dienstbier.

Ihre Leitlinien und Vorstellungen von einer internationalen Einbindung unseres Landes entstanden bereits zu der Zeit, als die Beiden noch Dissidenten waren. Sie waren vom Konzept eines zusammenarbeitenden Europa ausgegangen – ohne die NATO und den Warschauer Pakt, lediglich gestützt auf die OSZE, die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Mit dem Abzug der sowjetischen Truppen aus unserem Land und der Auflösung des Warschauer Paktes waren wichtige Schritte auf dem Weg zu dieser Vision vollzogen worden. Allerdings waren der Zerfall des jugoslawischen Staates und der Sowjetunion, aber auch der Golfkrieg, sichtliche Zeichen dafür, wie notwendig die Existenz solcher Sicherheitsmechanismen war. Sie stellten einen Garanten für die Sicherheit, aber auch für die Stabilität in Europa dar.

Den politischen Vertretern in Prag wurde diese Tatsache zunehmend bewusst, sie richteten ihr Augenmerk verstärkt auf die euro-atlantischen Strukturen. In der ersten Phase wurde allen klar, dass der Beitritt der ehemaligen Ostblockstaaten in das westliche Verteidigungsbündnis eher eine langfristige Angelegenheit darstellt – aus mehreren Gründen. Einen davon bildete das gesamte internationale und sicherheitspolitische Klima. Die sich auflösende Sowjetunion und anschließend Russland hatten zwar teilweise an Einfluss in der mitteleuropäischen Region verloren, dennoch spielte gerade ihre Haltung zu einer NATO-Erweiterung eine Schlüsselrolle.

Damals hatten sich die Beitrittskandidaten resolut gegen das russische Vetorecht gestellt; sie selbst sollten frei über eine mögliche Mitgliedschaft im Verteidigungsbündnis entscheiden dürfen. Doch die Position Russlands war zu dieser Zeit keineswegs auf die leichte Schulter zu nehmen. Eine der entscheidenden Aufgaben war es also, die tschechisch-russischen Beziehungen zu „normalisieren“ – ohne Rücksicht auf die historischen Erfahrungen. Zur Grundlage des neuen Kurses wurde schließlich der „Vertrag über Freundschaft und Zusammenarbeit“, den Václav Havel und Boris Jelzin 1993 in Prag unterzeichneten.

Was jedoch fehlte, war die positive Einstellung der tschechischen Gesellschaft zu einer Mitgliedschaft in der Allianz: Die Mehrheit der Bevölkerung zeigte sich reserviert gegenüber der NATO, eine eindeutige Unterstützung gab es nicht. Diese Einstellung war ein Abbild dessen, was sich zu dieser Zeit auf der politischen Bühne abspielte. Die konservativen Parteien sprachen sich prinzipiell für einen Beitritt aus, auch wenn Václav Klaus die Fragen der Sicherheit etwas „kühl“ betrachtete und größeren Wert auf die Einbindung in die internationalen Wirtschaftsstrukturen legte. Innerhalb der – damals oppositionellen – Sozialdemokratischen Partei (ČSSD) gab es keine klare Unterstützung. Sie verhielt sich (auch im Hinblick auf die öffentliche Meinung) eher zurückhaltend und verknüpfte die endgültige Entscheidung mit einem landesweiten Referendum. Diese Forderung wurde jedoch – aus pragmatischen Gründen – bald darauf verworfen, als sich nämlich herausstellte, dass es die ČSSD sein sollte, die zum Zeitpunkt des NATO-Beitritts die Regierungsverantwortung innehatte.

Unentschlossene Tschechen
Die ersten Tage Tschechiens in der NATO brachten bereits erste grundlegende Prüfungen mit sich – sie manifestierten sich in der Haltung des Landes zur NATO-Strategie im ehemaligen Jugoslawien. Die Schritte der tschechischen Diplomatie waren sehr unentschlossen. Auch wenn sich Havel für eine klare Unterstützung der NATO einsetzte: Die Reaktion der Regierung fiel nicht eindeutig aus. Die tschechische Diplomatie hatte damals versucht, aktiv zur Beilegung des Konflikts beizutragen. Im Mai 1997 übergab sie der NATO-Führung den Text einer tschechisch-griechischen Initiative, in dem sie Schritte zur politischen Lösung der Kosovo-Krise vorschlug. Diese Initiative, deren Punkte in vielen Bereichen bereits von der internationalen Gemeinschaft vorgeschlagen wurden, blieb innerhalb der Allianz nahezu ungehört. Die eigenständigen Schritte riefen eher Zweifel an Tschechien als einen zuverlässigen Bündnispartner hervor. Es sollte nicht das letzte Mal gewesen sein, dass sich die Spitzenpolitiker unseres Landes nicht auf eine einheitliche Position zum Weltgeschehen verständigen konnten.

Die ersten Jahre der tschechischen Mitgliedschaft könnte man als ein „Tappen im Dunkeln“ bezeichnen. Die NATO kritisierte die schlechte wirtschaftliche Situation im Verteidigungsressort und die langsam verlaufende Reform der tschechischen Streitkräfte. Erst der Wechsel an der Spitze des Verteidigungsministeriums, namentlich der Antritt von Jaroslav Tvrdík, läutete eine grundsätzliche Wende in der weiteren Entwicklung ein: Klare Vorstellungen vom Aufbau der tschechischen Armee und deren Einbindung in den Kampf gegen den Terrorismus, deren Professionalisierung und verstärktes Engagement innerhalb des Verteidigungsbündnisses sorgten dafür, dass sicherheitspolitische Fragen zu einem gesamtgesellschaftlichem Thema wurden – was der ČSSD sogar den Sieg in den Parlamentswahlen 2002 einbrachte. Es war das erste und vorerst letzte Mal, dass solch ein sicherheitspolitisches Thema einen Wahlkampf prägte.

Die angespannte Wirtschaftslage und die Kosten für die Beseitigung der durch das Hochwasser 2002 verursachten Schäden markierten das Ende der ambitionierten Militärreformen. Die Regierung verzichtete auf den Kauf mehrerer Überschallflugzeuge und stellte kostenaufwändige Projekte ein, die mit der Neustrukturierung der tschechischen Armee zusammenhingen. Trotz dieser Situation beteiligte sich Tschechien weiterhin am Kampf gegen den Terrorismus, nahm an den Einsätzen in Afghanistan und im Irak teil.

Doch im Irak-Einsatz zeigte sich erneut die Uneinigkeit in unserer Außenpolitik. Während Václav Havel den Angriff der Bündnispartner auf den Irak ausdrücklich unterstützte, vertrat die tschechische Regierung einen Standpunkt, aus dem überhaupt nicht ersichtlich wurde, ob sie die Mission unterstützte oder ablehnte.

Ein weiteres sicherheitsrelevantes Thema, das die tschechische Politik zur Jahrtausendwende bewegte, stellte die Einbindung Tschechiens in das Projekt einer US-Raketenabwehr und die Stationierung einer Radaranlage auf unserem Gebiet dar. Die Teilhabe an diesem Projekt war für Tschechien die einzige Chance, ein „interessanter“ Verbündeter zu werden. Gleichzeitig eröffnete sich der Weg zu modernen Technologien und einer engeren militärischen und wirtschaftlichen Zusammen­arbeit mit den USA. Die Verhandlungen, die zur Regierungszeit von Vladimír Špidla begannen, wurden paradoxerweise von den nachfolgenden sozialdemokratischen Regierungschefs vehement abgelehnt. Auch wenn das Projekt von Seiten der USA teilweise eingeschlafen war: Die tschechischen Reaktionen und Standpunkte lösten auch dieses Mal eher Zweifel aus.

Zemans Vision
Die letzten Jahre kann man als „Zeit des Stillstands“ betrachten, Militärausgaben wurden sukzessive gekürzt (derzeit betragen sie 1,08 Prozent des BIP; die NATO fordert von ihren Mitgliedern mindestens zwei Prozent; Anm. d. Red.). Die durch die Wirtschaftskrise verursachten Haushaltskürzungen betrafen alle Mitgliedsstaaten der NATO. In Tschechien wurden überteuerte Aufträge vergeben und das Militärbudget dient mittlerweile als Reserve, um Haushaltslöcher zu stopfen.

Die Frage bleibt, ob dieser Trend auch weiterhin besteht. Die neue Regierung stützt sich in ihrem Programm auf langfristig wiederholende Phrasen über eine aktive Mitgliedschaft in NATO und EU sowie den Kampf gegen Terrorismus; neu hinzugekommen ist lediglich der Cyber-Terrorismus. Der Einzige, der seine Vision zumindest etwas konkretisieren kann, ist Präsident Zeman. Seine deutliche Haltung gegenüber dem Terrorismus ist seit langem bekannt. Auch sein Appell an die Entsendung unserer Einheiten in die Golan-Höhen deutet an, wohin seine außenpolitischen Bemühungen zielen. Seine pragmatisch entgegenkommende Einstellung gegenüber Russland hat sich auch in der Haltung zu den jüngsten Ereignissen auf der Krim gezeigt. Auch wenn er mit einer russischen Intervention nicht übereinstimmt, versteht er trotzdem „die Interessen der mehrheitlich russischsprachigen Bevölkerung“.

Beachtenswert ist auch seine Vision von einer gemeinsamen europäischen Armee, die er zum ersten Mal im vorigen Jahr an der Humboldt-Universität in Berlin vorstellte und die er vor kurzem bei seiner Rede vor den Abgeordneten des Europäischen Parlaments wiederholte. Auch wenn es, wie er selbst sagt, ein „europäischer Traum“ ist: Ihm ist es gelungen, eine Debatte zu eröffnen, die die momentane Unfähigkeit der EU aufzeigt, die Rolle eines bedeutenden Akteurs in der Sicherheitspolitik – ohne Hilfe der Vereinigten Staaten – zu spielen.

Die Suche nach einem Sicherheitsparadigma geht also weiter. Die Ereignisse in der Ukraine könnten dazu führen, dass die allgemeine Position Prags endlich Konturen annimmt. Die Frage bleibt allerdings weiterhin, ob die jetzige Regierung überhaupt über das entsprechende Potential dafür verfügt. Die unterschiedlichen Ansichten und Erklärungen aus dem Mund der Minister rufen eher Zweifel hervor – bisher.

Der Autor arbeitete zwischen 1994 und 2005 für das tschechische Verteidigungsministerium. Als stellvertretender Leiter der Abteilung für internationale Beziehungen war er dort für die Sicherheitspolitik im euro-atlantischen Raum zuständig. Seit 2012 engagiert sich Kolomazník in der Nichtregierungsorganisation CBAP (Zentrum für Sicherheitsanalysen und -prävention).