Am Leben, ohne zu leben
Josef Čapeks „Gedichte aus dem KZ“ erscheinen erstmals auf Deutsch
13. 10. 2015 - Text: Petr Jerabek, Bild: Josef Čapek - Mutter mit Kind (Matka s dítětem, Ausschnitt)
Seinem Leiden und Tod zum Trotz triumphierte er über seine Peiniger. Sie wollten ihn zum Schweigen bringen und sperrten ihn ein – doch er schuf auch hinter Mauern und Stacheldraht ein Werk, das die NS-Schergen überdauern sollte: Im Konzentrationslager Sachsenhausen schrieb der Maler und Schriftsteller Josef Čapek (1887-1945) rund 130 Gedichte, die von Mithäftlingen gerettet und nach Kriegsende vom Dichter Vladimír Holan veröffentlicht wurden. 70 Jahre nach Čapeks Tod erscheint nun erstmals eine repräsentative Auswahl der „Gedichte aus dem KZ“ in deutscher Übertragung.
Bisher lagen auf Deutsch – über Anthologien verstreut – nur einzelne Texte aus der Sammlung vor. Der Arco Verlag veröffentlicht in seiner „Bibliothek der böhmischen Länder“ eine hervorragend ausgestattete, sorgfältig und mit Liebe zum Detail zusammengestellte Ausgabe, die mit 44 Gedichten rund ein Drittel des tschechischen Originals umfasst. Herausgeber des Bands sind der Heidelberger Slawistikprofessor Urs Heftrich sowie der tschechische Literaturhistoriker und Čapek-Experte Jiří Opelík.
Die Verse nehmen den Leser mit auf eine bedrückende Reise in den düsteren Alltag der KZ-Insassen, schildern Leid, Ängste und Hoffnungen. Die ersten Gedichte hatte Čapek – der zuvor noch nie Poesie veröffentlich hatte – vermutlich für sich selbst verfasst, aus dem Bedürfnis heraus, das Grauen zu verarbeiten, das innere Gleichgewicht zu wahren. Schnell fanden die Verse unter den Mithäftlingen in Sachsenhausen dankbare Leser, wurden unter großen Risiken auf einer Schreibmaschine abgetippt, mehrere Durchschläge kursierten im Lager.
Immer wieder gibt Čapek Einblick in die Beklemmung der Häftlinge: „Und wieder eine Woche angebrochen –/woher nur immer neue Kräfte schöpfen,/zu sein und nicht zu sein von dieser Welt,/am Leben, und doch nicht zu leben?“ Beim Blick in die Wolken schreit er seine Verzweiflung in den Himmel: „Warum, warum wirfst du nicht Blitze und zerschmetterst krachend/dies Böse, dir ins Antlitz lachend?“
Odyssee durch Lager und Kerker
Daneben stehen erschütternde Schilderungen der Verelendung von Kriegsgefangenen, von Hinrichtungen, von Leichenbergen. „Von der Karre warfen sie die Toten, ganz wie Holz – nein, eben/nicht wie Holz: wie Müll, wie Abfall, Ausschussware“, heißt es beispielsweise. Oder: „Gesichter ohne Antlitz, Körper ohne Form,/allem so fremd, was uns bekannt als Welt:/das ist kein Mensch mehr hier, das Leben selbst zerfällt.“
Josef Čapek, einer der innovativsten tschechischen Maler der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, war am ersten Kriegstag, dem 1. September 1939, von der Gestapo festgenommen worden. Für den sensiblen Künstler begann eine jahrelange Odyssee durch deutsche Kerker und Lager. Sie führte ihn in die Konzentrationslager Dachau, Buchenwald und Sachsenhausen, ins berüchtigte Gestapo-Gefängnis am Berliner Alexanderplatz, zurück nach Sachsenhausen und schließlich nach Bergen-Belsen, wo er wohl im April 1945 starb – nur wenige Tage vor oder nach der Befreiung des KZ.
Eindringlich beschreibt Čapek, wie ihm in der „Hölle“ des Berliner Gestapo-Kerkers der Schlaf zum wichtigsten Verbündeten wurde: „Als es am schlimmsten war,/als ich mit Krätze saß,/Wanzen- und Läusefraß;/meinen räudigen Leib/die Seele, vor Schrecken starr/hast du, wie sie war,/ohne Abscheu umarmt/und in Vergessenheit/sank mit dem Schlaf/die Not, die Qual, das Leid.“
Čapek belässt es aber nicht bei Trauer und Wut. Dem Grau und Schwarz des Lageralltags stellt er die bunte Fülle des Lebens der Heimat gegenüber – Erinnerung an das, was war und wieder sein könnte. Trotz all der Jahre in Lagern, trotz Zwangsarbeit und Qualen lässt er in seinen Gedichten eine überraschende Zuversicht aufleuchten.
Die wichtigste Lichtquelle für den Autor war der Gedanke an seine Frau und Tochter, denen er mehrere Gedichte widmete. Leider findet sich von ihnen kein einziges in der deutschen Ausgabe. Das ist schade, weil gerade diese Zeilen einen warmen Kontrapunkt zur Schilderung der Kälte im Lager bilden. So zum Beispiel das Gedicht „Ne, ještě dávno“, in dem Čapek alle Verzweiflung abschüttelt, um seiner Frau eine innige Liebeserklärung zu machen und trotzig ein gemeinsames Leben nach dem Lager zu beschwören: „Nein, noch lange nicht ist allem ein Ende.“
Suche nach dem besten Kompromiss
Insgesamt aber lag es nahe, für den deutschen Leser aus der Fülle der Gedichte eine Auswahl zu treffen. Viele Verse kreisen um ähnliche Themen und Motive: die Trauer um den 1938 verstorbenen jüngeren Bruder Karel, die „träge“ Zeit im KZ, die verlorene Heimat, den Widerspruch zwischen der Schönheit der Natur und dem Elend im Lager.
Die Herausgeber entschieden sich für eine „strukturadäquate Übertragung“, wie es im Buch heißt, um eine Wiedergabe „unter möglichst weitgehender Beibehaltung der von Josef Čapek gewählten prosodischen Form“. Mit gutem Grund: Suchte Čapek bei seinen vorherigen literarischen Werken (zum Beispiel „Der hinkende Pilger“) ohne Rücksicht auf Lesergewohnheiten nach einer originären Ausdrucksform, so setzte er im KZ auf traditionelle Poesie – dem Lesehorizont der Mitgefangenen entsprechend.
Heftrich hat seine Übersetzungstätigkeit in anderem Kontext selbst als „Suche nach dem besten Kompromiss“ bezeichnet. Wegen des Versuchs, zugleich für Reime, Rhythmus und Inhalt der Čapek-Gedichte eine Entsprechung zu finden, kommt der deutsche Text stellenweise etwas umständlich daher – nicht so natürlich und klar wie das Original. Bei vielen Versen aber ist Heftrich der Kompromiss erstaunlich gut geglückt.
Jedem Gedicht ist – soweit erhalten – ein Faksimile von Čapeks Handschrift gegenübergestellt, sodass dieser gelungene Band auch das tschechische Original enthält. Ausführliche Anmerkungen im Anhang erklären biographische und intertextuelle Bezüge in den Gedichten. Hinzu kommen Jiří Opelíks lesenswertes Nachwort und zahlreiche Abbildungen: Fotografien, antifaschistische Karikaturen Čapeks, Briefe aus dem KZ und Reproduktionen von Gemälden.
Josef Čapek: Gedichte aus dem KZ. Aus dem Tschechischen von Urs Heftrich, mit einem Nachwort von Jiří Opelík, Arco 2015, 192 Seiten, 26 Euro, ISBN 978-3-938375-59-4
„Markus von Liberec“
Geheimes oder Geheimnistuerei?