Herrschaftsidee in Stein gemeißelt

Herrschaftsidee in Stein gemeißelt

Die schönsten Aussichten auf die Stadt – Teil 6: Altstädter Brückenturm

19. 10. 2016 - Text: Josef Füllenbach, Fotos: Anežka Lípová

Kein anderes der vielen von Karl IV. in Prag initiierten Bauwerke wurde später so schändlich missbraucht wie der Altstädter Brückenturm: Am 21. Juni 1621 wurden auf dem Altstädter Ring auf Geheiß Kaiser Ferdinands II. in einem grausig-blutigen Schauspiel vor aller Augen insgesamt 27 böhmische Aufständische exekutiert. Zwölf der abgeschlagenen Köpfe steckten die Schergen in Drahtkörbe. An Stangen befestigt hängten sie diese auf der östlichen und der westlichen Seite des Brückenturms aus den Öffnungen der das Dach umlaufenden Galerie, die heute als eine der beliebtesten Aussichtsplattformen gilt. Da es damals in Prag noch keine andere Brücke über die Moldau gab, musste sich jeder Benutzer der Karlsbrücke zwangsläufig und auf schrecklichste Weise daran erinnern lassen, wie der Kaiser fortan Ungehorsam ahnden will.

Diese gotteslästerliche Demonstration unerbittlicher Rachsucht des Habsburgers steht in krassem Gegensatz zu allem, was der Altstädter Brückenturm als steinernes Monument der Herrschaftsidee Karls IV. zur Anschauung bringt. Karl hat bei allen von ihm in Auftrag gegebenen Bauwerken darauf geachtet, dass diese nicht nur den jeweiligen praktischen Nutzen erfüllen, sondern auch durch mannigfache Symbole seinem Verständnis eines in der Geschichte und im Jenseits verankerten Herrschertums Ausdruck verleihen. Mit seiner Verbindung von profaner Zweckbestimmung als wehrhafter Verteidigungsbau und ikonographischer Überhöhung von Karls Kaiser- und Königtum ist der Altstädter Brückenturm einzigartig.

Der Brückenturm wurde zusammen mit der Karlsbrücke erbaut. Karl IV. legte den Grundstein für Turm und Brücke 1357 am 9. Juli nachmittags um 5 Uhr 31. Seit 1342, als bei einem schweren Hochwasser die Vorgängerin der Karlsbrücke, die Judithbrücke, zerstört wurde, waren 15 Jahre vergangen. Bis heute ist ungeklärt, warum Karl mit der Entscheidung so lange gewartet hat, die alte Brücke nicht wieder­herzustellen, sondern eine völlig neue, wesentlich breitere und höhere, zu errichten. Dass er, als die Zeit heran­gereift war, den genauen Zeitpunkt der Grundsteinlegung mit Bedacht wählte, ist unbestritten, denn daraus resultiert die magische Zahlenfolge 135797531, also ein bis zur Neun aufsteigender und dann abfallender Bogen der ungeraden Zahlen.

Blick auf die Dächer und Türme der Altstadt

Veit als Schutzpatron
Die besondere Bedeutung, die Karl dem Bau von Brücke und Turm beimaß, erhellt auch aus der Wahl des Baumeisters: Sie fiel auf Peter Parler, der zugleich mit dem Bau des Veitsdoms auf dem Hradschin beauftragt war. Eine Inschrift über der Büste von Peter Parler im Triforium des Veitsdoms erinnert an seine Verdienste um den Bau der Karlsbrücke. Gerade am Brückenturm ist zu erkennen, wie Parler den sonst beim Bau gotischer Kathedralen üblichen Katalog an Formen und Ornamenten nutzte und zum Teil weiterentwickelte.

Der über dem Fußweg (früher auch über der Fahrbahn) etwa 40 Meter aufragende, nahezu quadratische und die gesamte Breite der Brücke einnehmende Baukörper ist in drei Etagen unterteilt. Die untere Etage bildet der mächtige Torbogen, der sich nach Osten zur Altstadt und nach Westen zur Brücke hin öffnet. Bei dem Gewölbe über der Durchfahrt hat Parler die Rippen abweichend von der traditionellen gotischen Bauweise gestaltet. Aus den Seitenwänden aufsteigend kreuzen sie sich und bilden 15 bemalte Fächer, darunter in der Mitte des Gewölbes ein quadratisches Feld. Darin ist anstelle des sonst üblichen Gewölbeschlusssteins ein großes, aus Stein gemeißeltes Abbild der Wenzelskrone angebracht – auf beiden Seiten flankiert von dem Wappen des Heiligen Römischen Reiches mit dem Reichsadler und dem Wappen des Königreichs Böhmen mit dem doppelschwänzigen Löwen. Auf der östlichen Seite des Turms sind diese beiden Wappen unter dem ersten Sims ebenfalls angebracht, rechts und links daneben befinden sich jeweils vier Wappen der anderen Länder, die damals zur böhmischen Krone zählten.

Die mittlere Etage wird dominiert von einem großen Dreieck, dem ein Halbbogen und zwei Viertelbögen eingepasst sind, alles aus Maßwerk gefertigt. Diese geometrische Komposition stellt einen vereinfachten Querschnitt des Chors des Veitsdoms und seiner Seitenstreben dar. In der Mitte unter dem Halbbogen steht der heilige Veit auf dem Modell zweier Brückenbogen der Karlsbrücke: Veit als Schutzpatron des Bauwerks. Rechts neben dem Brückenmodell (aus Blickrichtung der Figuren) und damit auf dem ehrenvolleren Platz sitzt Karl IV. auf dem Thron, auf der linken Seite sein Sohn und Nachfolger Wenzel IV. Unmittelbar neben Veit neigen sich ihm die schon bekannten Wappen des Reiches und Böhmens zu, bedeckt jeweils mit Helm, Krone und Adlerflügeln.

Unter Beschuss
Der Kult des heiligen Veit wurde schon früh zum festen Bestandteil des böhmischen Heiligen­kalenders. Nach der Legende erhielt der heilige Wenzel in Regensburg von Kaiser Heinrich als Reliquie ein Schulterstück des 303 unter Diokletian als Märtyrer gestorbenen Heiligen. Diese Begebenheit hatte Karl in seiner eigenen Lebensbeschreibung festgehalten. Bei seiner Reise nach Rom zur Kaiserkrönung 1355 erbat sich Karl im Augustinerkloster in Pavia, wo der Heilige zur letzten Ruhe gebettet war, den Schädel, der sodann feierlich im Prager Veitsdom beigesetzt wurde. In der Gestalt Veits verbindet sich für Karl somit die Wenzels- und Přemyslidentradition mit der Erinnerung an das alte Römische Reich, der Herkunft Veits.

Das Wappen weiter oben, in der Spitze des Dreiecks, zeigt den flammenden Adler, der in Böhmen unter den Přemysliden als Symbol für Herrscher und Land galt; nachdem sich unter Ottokar II. Přemysl um 1250 der doppelschwänzige Löwe durchgesetzt hatte, blieb der flammende Adler weiterhin Attribut des heiligen Wenzel. Darüber sind in zwei Nischen der oberen Etage Statuen der Landes­heiligen Adalbert und Sigismund aufgestellt.

Die westliche, der Karlsbrücke zugewandte Seite des Turms muss ursprünglich ähnlich reich verziert gewesen sein wie die Ostseite. Bei dem Ansturm der Schweden 1648 auf die Altstadt, nachdem sie schon den Hradschin und die Kleinseite besetzt hatten, wurde die Westseite unter Beschuss genommen. Dabei wurde der figürliche und ornamentale Schmuck fast vollständig zerstört; was übrig blieb, musste später zum Schutz der Passanten abgeschlagen werden. Immerhin konnten die Bürger der Altstadt, darunter vor allem die Studenten, den Einfall der Schweden verhindern. Bewährt hat sich dabei das schwere Fallgitter, mit dem der Torbogen versperrt werden konnte. Die steinerne Führung des Gitters ist bis heute erhalten. An die glücklich überstandene Gefahr kündet eine lateinische Inschrift auf der Westseite des Turms.

Die mittlere Etage der Westseite schmückte eine Madonnen­statue, vermutlich auf beiden Seiten flankiert von dem knienden Karl IV. und seiner Gemahlin Elisabeth von Pommern. Über weitere ehemalige Statuen auf dieser Turmseite kann man nur Vermutungen anstellen. Einiges spricht dafür, dass etwa aus den Nischen der oberen Etage die Landesheiligen Wenzel, Ludmila und Prokop auf das Gewimmel von Fußgängern, Fuhrwerken und Kutschen herabgeschaut haben könnten.

Auf- und Abstieg
Als die im Dreißigjährigen Krieg auf protestantischer Seite kämpfenden Sachsen 1631 vorübergehend Prag besetzten, konnten die nach zehn Jahren noch immer zur Abschreckung aus der Galerie hängenden Totenköpfe pietätvoll abgenommen und zusammen mit den sonstigen sterblichen Überresten beigesetzt werden. Das wechselhafte Kriegsglück wohl vorausahnend, ist man dabei mit strengster Geheimhaltung vorgegangen. Nachdem die Kaiserlichen nach wenigen Monaten die Sachsen wieder vertrieben hatten, gelang es ihnen nicht, den Ort der Bestattung herauszufinden, um die Schändung des Brückenturms zu erneuern. Bis heute ist der Verbleib der Gebeine ein Geheimnis geblieben.

Besucher sollten die Mühe der 138 Stufen bis hinauf zur Galerie nicht scheuen. Unterwegs erwarten sie im ersten und zweiten Stockwerk Informationen zum Turm, unter anderem ein Modell der Funktionsweise des Fallgitters. Und ganz oben belohnt sie ein überwältigender Blick nach Westen auf den Hradschin mit der Kleinseite, auf das unaufhörliche Gewimmel der Menschen auf der Brücke und in östlicher Richtung auf die Dächer und Türme der Altstadt. Ebenso lohnt sich ein Abstieg in den Keller, wo in Vi­trinen Gegenstände gezeigt werden, die im Laufe der Zeit unterhalb der Brücke vom Grunde der Moldau gehoben wurden: Taschenmesser, Armbanduhren, Kameras, Biergläser und vieles andere.

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