500 Kilometer Lesen
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500 Kilometer Lesen

Mehrere tausend Schüler verbinden Prag und Hamburg durch eine „Lesebrücke“ - und feiern damit eine 30-jährige Partnerschaft

13. 2. 2021 - Text: Klaus Hanisch, Titelbild: Tom Hermans

Das Ziel sollte schon Ende Januar erreicht sein. Bis dorthin fehlen jedoch noch mehr als 100 Kilometer. Maren Töbermann ist dennoch nicht enttäuscht. „Nein, überhaupt nicht“, sagt die Projektleiterin, „dieses Datum war nur ein grober Richtwert und eine Perspektive, auf die hingearbeitet werden sollte.“

Das Ziel? Eine Brücke zwischen Prag und Hamburg bauen. Besser gesagt: eine „Lesebrücke“ – errichtet von Schülern aus beiden Städten zur 30-jährigen Partnerschaft. Das Jubiläum sollte im vorigen Jahr groß gefeiert werden, fiel jedoch wegen Corona ins Wasser. Keine Besuche, Austauschprogramme, Veranstaltungen – wie viele andere Formate für interkulturelle und innereuropäische Begegnung, die ebenfalls nicht stattfinden konnten.

Deshalb wurde ein anderer Weg gewählt. Und das Motto ausgegeben: 30 Jahre, 30 Schulen, 3 Millionen Seiten. Es besagt, dass Kinder aus diesen Städten so viele Seiten lesen sollen, um damit eine 500 Kilometer lange Brücke zu erstellen. So groß ist die Entfernung zwischen Prag und Hamburg. Wobei die Rechnung lautet: sechs Seiten pro Buch sind so viel wert wie ein Meter Länge. Somit machen 6.000 Seiten also einen Kilometer aus und 600.000 Seiten stehen für 100 Kilometer. Das bedeutet unterm Strich: Die Schüler müssen drei Millionen Seiten lesen, um die Strecke zwischen den Partnerstädten zu bewältigen. „Mit jeder gelesenen Seite kommen sie sich ein Stück näher und treffen sich schließlich zum virtuellen Brückenschlag“, wird als Ansporn auf der Internetseite des Projektes ausgegeben.

Keine geringe Herausforderung. Aber auch ein Appell an Gemeinschaftsgeist und Zusammenhalt zwischen den Städten. Und eine Chance, junge Menschen für diese Partnerschaft zu interessieren und damit auch für ein gemeinsames Europa. Dafür notieren Kinder, wie viele Seiten sie jeden Tag gelesen haben und geben ihre Zahlen an ihre Lehrer weiter. Die Schulen tragen die Gesamtseiten ihrer Schüler alle paar Wochen über ein Online-Formular auf der Website der „Lesebrücke“ ein.

Oberste Maxime: die Schüler dürfen alles lesen, Bilderbücher, Erstlesebücher oder dicke Romane. Und sie dürfen überall lesen, zu Hause ebenso wie in der Schule. „Jedes Kind trägt unabhängig von seiner individuellen Lesekompetenz zum Erfolg des Projekts bei“, lautet die pädagogische Formel. Somit werde „jedes Kind und jede einzelne Seite zum wichtigen Baustein des gemeinsamen Ziels“. Die Seiten werden gesammelt und addiert. Und im Internet wird verkündet, welche Wegstrecke bereits bewältigt wurde. Stand Mitte Februar: mehr als 2,1 Millionen Seiten wurden bisher gelesen. Dadurch sind rund 360 Kilometer zurückgelegt. Fehlen also noch knapp 140 Kilometer bis zum Ziel. Mehr denn je lautet nun das Motto: „Jede Seite zählt.“ Und: „Gemeinsam, alle zusammen – ganz bestimmt!“ Eine klare Zeitvorgabe gibt es nicht mehr. „Wir hätten es bis Ende Januar geschafft, wenn nicht in beiden Städten ein Lockdown verhängt worden wäre“, blickt Töbermann zurück.

Zum Mitmachen waren jeweils 30 Grundschulen aus Hamburg und Prag aufgefordert, und zwar die Jahrgangstufen von eins bis vier, in speziellen Schulen zudem die Klassenstufen fünf und sechs. Auch dabei setzte die Pandemie Grenzen. Das Projekt begann im November 2020, doch der Start verlief in der tschechischen Hauptstadt nur schleppend – wegen Corona konnte nur digital dafür geworben werden. Dann habe es aber „super geklappt“, fasst Ursula Schulz zusammen, „in Prag machen 26 Schulen mit und gerade gibt es eine aktuelle Anfrage einer weiteren Schule, ob sie noch teilnehmen kann.“ Die Repräsentantin Hamburgs in Prag hat den Kontakt zum tschechischen Schulministerium hergestellt. „Und dort begrüßt man das Projekt ausdrücklich“, so Schulz.

In Hamburg war die Nachfrage so groß, dass einfach die ersten 30 Anmeldungen genommen wurden. Und selbst jetzt gebe es noch Anfragen aus den mehr als 300 Grundschulen der Elbmetropole, ergänzt Maren Töbermann. Dort gehen zwischen 300 und 600 Schüler in die verschiedenen Grundschulen, in Prag ist eine Schule mit gar 900 Schülern dabei. „Insgesamt sind es also zigtausend Schüler, die bei dem Projekt mitmachen“, bilanziert Töbermann nicht ohne Stolz.

„Wer will, macht mit.“

Dass trotzdem nicht die drei Millionen Seiten in einem Vierteljahr gelesen wurden, hat mehrere Gründe. „Manche Schulen melden uns in zwei Wochen 200 gelesene Seiten, und andere 30.000 Seiten.“ Zuweilen nehmen komplette Klassen teil, manchmal auch nur ein paar Schüler aus einer Klasse. Geplant war, dass eine Schule als Einheit an den Start geht. „Aber das soll natürlich kein Zwang sein“, so Töbermann, „wer will, macht mit.“

Trotz Homeschooling hatten viele Schüler genügend Motivation, für das Projekt zu lesen und Seiten beizusteuern. Da in Hamburg im Herbst noch Präsenzunterricht durchgeführt wurde, konnten Lehrer dort das Thema ausreichend einführen. „Kinder haben sogar die Entfernungen nachgemessen und gerechnet, das war quasi ein ergänzender Mathe-Unterricht“, freut sich Maren Töbermann.

Mit den Schulschließungen sei Lesen zu Hause sicher nicht mehr so einfach gewesen, weil es viel Ablenkung und andere Möglichkeiten zur Unterhaltung gebe. „Doch das Projekt ist so konzipiert, dass es ohne großen Aufwand auch im Homeschooling funktioniert und Kinder keinerlei Verwaltungsarbeit betreiben müssen.“ Möglicherweise diente es manchmal gar als Beschäftigungstherapie, um Eltern während des Lockdowns zu entlasten.

Das Projekt enthält auch wichtige pädagogische Aspekte. Es wurde gezielt als „niedrigschwelliges Leseförderformat“ konzipiert. Pädagogen finden es gut, dass man „einfach nur ein Buch braucht, um mitzumachen“. Da die „Lesebrücke“ analog umsetzbar ist, aber digital begleitet werden kann, konnte sie problemlos während der Schulschließungen in beiden Städten fortgeführt werden. Ebenso über die Weihnachtsferien.

Zudem soll sie „bildungsbenachteiligte Kinder“ unterstützen, die durch die Corona-Pandemie massive Nachteile für ihre Lernentwicklung erfahren. „Insbesondere die Lesekompetenz als eine Schlüsselqualifikation zu gesellschaftlicher Teilhabe konnte bei vielen Kindern in den vergangenen Monaten kaum ausgebaut und stabilisiert werden“, wird auf der Website des Projektes vermerkt.

Keine Konkurrenz

Ein Wunsch wurde jedoch nicht realisiert: die Lektüre von Kinderbüchern aus der jeweils anderen Stadt. Zum Beispiel von Josef Holub (PZ-Artikel „Über Grenzen hinweg“). „Das war ebenfalls mein Ziel“, sagt Maren Töbermann, zumal es in Hamburg zwei große Kinderbuchverlage gibt. „Wir hätten uns mehr Austausch gewünscht, aber in Prag ist die Szene nicht so organisiert und Autoren von Kinderbüchern nicht so vernetzt wie bei uns.“ Immerhin soll ein Paket mit Buchspenden von Hamburger Schriftstellern demnächst nach Prag geschickt werden.

Das Projekt wird unter der Trägerschaft der Stiftung Bürgerhaus Wilhelmsburg realisiert, die seit Jahren Erfahrungen mit größeren Leseförderprojekten und Literaturveranstaltungen für Kinder hat. „Super engagierte“ Lehrkräfte werden durch die Schulbehörden beider Städte unterstützt, ebenso leisten unter anderem die Senatskanzlei Hamburg und das Bildungsministerium in Prag wertvolle Hilfe. Obwohl Stadt und Land dort von Corona nach wie vor schwer betroffen sind. So „erkrankten in Prag zwei der drei Projekt-Mitarbeiterinnen selbst an Corona“, wie Töbermann erfahren hat.

Bei der „Lesebrücke“ geht es ausdrücklich nicht um einen Wettbewerb. „Weder die einzelnen Schulen noch die beiden Städte sollen hierbei in Konkurrenz zueinander stehen“, heißt eine wichtige Vorgabe. Daher werden Leseleistungen der einzelnen Schulen auch nicht öffentlich bekanntgegeben. Trotzdem werden Gewinne unter Schulen und Klassen verlost, etwa Buchpreise und Lesungen. Die Stadt Hamburg lädt zu drei Rathausführungen ein, sofern Corona dies zulässt. Dank großzügiger Spenden hat Maren Töbermann „genug Preise, damit jede der 30 Schulen belohnt wird“.

Sie ist überzeugt davon, dass ihr Low-Budget-Projekt in wenigen Wochen auf die Zielgerade einbiegt. „An Ostern sind beide Städte verbunden“, bekräftigt die Projektmanagerin mit Nachdruck. Zumindest diese „Lesebrücke“ brachte Corona nicht zum Einsturz.