Zu kurz gesprungen

Zu kurz gesprungen

Der jüngste EU-Gipfel befasste sich mit Quoten statt mit dem Flüchtlingsproblem. Ein Kommentar

1. 7. 2015 - Text: Josef FüllenbachText: Josef Füllenbach; Foto: ČTK/Jan Koller

Drei Großthemen sind es, die seit geraumer Zeit die Europäische Union bewegen und die das Potential haben, die EU in erhebliche Schwierigkeiten, wenn nicht in Existenznöte, zu stürzen: der unerklärte Krieg in der Ukraine mit der damit verbundenen Herausforderung an der Ostgrenze der Union, die Krise der gemeinsamen Währung mit dem aktuellen Fall Griechenland und das zunehmend brennende Problem der Immigration von Kriegs- und Wirtschaftsflüchtlingen. Man sollte annehmen, ein solches Bündel von äußeren und inneren Bedrohungen müsste die EU eher zusammenschweißen denn zum Sprengsatz werden. Bei der Eurokrise ist Tschechien einstweilen nur interessierter Zaungast. Aber mit Blick auf die Ukraine und auf das Flüchtlingsproblem hat das Land wiederholt und bewusst wider den Stachel gelöckt und im Verein mit (vor allem) mitteleuropäischen Gleichgesinnten ein gemeinsames europäisches Vorgehen erschwert.

Zuletzt war dies wieder zu beobachten an der quälenden Diskussion über einen Schlüssel für eine gerechtere Lastenteilung unter den EU-Mitgliedern bei der Aufnahme von Flüchtlingen. Zusammen mit einigen anderen Ländern hat Premier Sobotka sich beim EU-Gipfel Ende letzter Woche durchgesetzt und feste Quoten für die Zuteilung von Flüchtlingen abgelehnt. Es bleibt damit vorerst bei der Freiwilligkeit und einem nun irgendwie erhöhten politischen Druck, einigen hundert Flüchtlingen mehr im Land eine Bleibe anzubieten. Die Regierung musste sich dafür von einigen wenigen Medien (auch von dieser Zeitung), in einer als äußerst hitzig beschriebenen Debatte jedoch vor allem von den europäischen Partnern mangelnde Solidarität vorhalten lassen. In Tschechien ist das Gipfelergebnis fast einmütig mit Erleichterung aufgenommen worden, ganz nach dem schon geflügelten Wort des zuständigen Innenministers: „Das sind arme Teufel, aber unser Land lassen wir nicht zerstören!“ Und Präsident Zeman setzte noch eins drauf, indem er am Wochenende erklärte, „mit der Aufnahme von Flüchtlingen erleichtern wir sehr die Ausweitung des Islamischen Staates nach Europa.“

Aber muss man sich wundern, dass dieser billige Populismus in einem Land wie Tschechien auf fruchtbaren Boden fällt? Denn auch im restlichen Europa hat eine ernsthafte politische Diskussion darüber noch gar nicht angefangen, welche Migrationsströme aller Wahrscheinlichkeit nach in den kommenden Jahrzehnten auf Europa zukommen und mit welchen Mitteln die Union dem begegnen will. Eher dunkel hat Kanzlerin Merkel jüngst in Brüssel angemerkt, Europa stehe hier „vor der größten Herausforderung, die ich, jedenfalls in meiner Amtszeit, bezüglich der Europäischen Union gesehen habe.“ Wenn das so ist, dann ist das Schachern um Quoten, um einige hundert Flüchtlinge mehr oder weniger, kleinliches Gezänk. Auch die bemühte begriffliche Trennung zwischen Kriegs- und Wirtschaftsflüchtlingen verliert an Bedeutung.

Beschämende Balgerei
Der gewaltige Wohlstandsrückstand Afrikas südlich der Sahara wird als Fluchtursache das politisch-kriegerische Chaos im Nahen Osten und an der südlichen Mittelmeerküste bald bei weitem ausstechen. Afrika südlich der Sahara zählt derzeit nicht sehr viel mehr Menschen als Europa insgesamt. Dass es um das Jahr 2100 mehr als fünfmal so viele sein werden, entspricht seriösen Schätzungen. Das Wohlstandsgefälle ist durch die modernen Medien bereits bis in die Dörfer bekannt. Es den schon abgewanderten Brüdern, Verwandten und Bekannten gleichzutun, wird immer verführerischer – gleich welche Gefahren unterwegs lauern. Ein erhebliches und nachhaltiges Anschwellen der Wirtschaftsmigration erscheint unausweichlich.

Statt der beschämenden Balgerei um Quoten für eine vergleichsweise bescheidene Anzahl von „armen Teufeln“ wäre eine weitsichtige Diskussion erforderlich, wie sich die Union dem erkennbar steigenden Druck stellen will. Hin und wieder klingt an, man müsse die Herkunftsländer in Afrika durch Entwicklungshilfe ökonomisch rasch und wirksam voranbringen, um die Motivation zur Abwanderung abzubauen. Ist das wirklich realistisch, wenn man sich die kargen Früchte von rund sechzig Jahren Entwicklungshilfe anschaut? Und wenn man sich die Zahlen vor Augen führt, um die es hier geht? Noch am erfolgreichsten war diese Hilfe im Gesundheitsbereich, indem sie zu einer erheblichen Absenkung von Säuglings- und Müttersterblichkeit geführt – und damit zu dem Bevölkerungswachstum beigetragen hat, aus dem sich die Migranten rekrutieren (werden).

Stattdessen (oder in erster Linie) müssten sich die europäischen Länder mit den afrikanischen Herkunftsländern an einen Tisch setzen und längerfristige Lösungen entwickeln. Dabei sollten dann auch jährliche Quoten, für die Herkunftsländer und Europa gleichermaßen, kein Tabu sein. Nur so wäre der ungeordnete, lebensgefährliche Flüchtlingsstrom zu stabilisieren und in geordnete Bahnen zu lenken. Und den Schlepperbanden würde endlich das Handwerk gelegt. Das setzt freilich voraus, dass Europa nicht weiter den Kopf in den Sand steckt und sich dazu durchringt, einen dauerhaften Zustrom von afrikanischen Migranten aufzunehmen.

Aber leider schlägt sich Europa ja noch mit anderen ungelösten Problemen herum, ohne dass absehbar wäre, wann es endlich mehr intellektuelle, finanzielle und zeitliche Ressourcen für das Zukunftsproblem Nummer eins erübrigen kann.

Zudem hält die Furcht vor dem Erstarken der Gruppen und Parteien am rechten Rand die Politik davon ab, die Öffentlichkeit auf die absehbaren Entwicklungen beherzt mit der Ausarbeitung von Strategien und Konzepten sowie mit mutiger Aufklärung vorzubereiten. Stünde es einem Land, dessen Gründungspräsident selbst ein Flüchtling war, das in den 1930er Jahren Tausenden von Flüchtlingen Schutz und Heimat gab, dessen Bürger 1938/39, 1948 und 1968 selbst in großer Zahl als Flüchtlinge Zuflucht suchten und fanden – stünde es diesem Land und seiner Regierung nicht gut an, bei der Entwicklung von Ideen und politischen Anstößen zur Meisterung dieser „größten Herausforderung“ voranzugehen und die Debatten zu befruchten, statt sich ängstlich an dumpfen Empfindungen an den Stammtischen zu orientieren?