Zeit ist Ohr

Zeit ist Ohr

Eindrücke und Erfahrungen als ausländischer Notfallpatient im Universitätsklinikum Motol

4. 5. 2016 - Text: Klaus Hanisch, Foto: Krokodyl/CC BY-SA 3.0

Ich höre seit gestern nicht mehr so gut. Irgendwelche Probleme mit dem linken Ohr. Möglicherweise Auswirkungen vom letzten Abend in einem Prager Musikclub. Vielleicht das Trommelfell? Jedoch keine Schmerzen. Auch kein Pfeifen und Summen. Trotzdem rät man im Internet, vorsichtshalber einen Arzt zu konsultieren. „Zeit ist Ohr“, sagen die Fachärzte – je schneller man bei ihnen ist, umso größer die Chance, möglichst viel vom Gehör zu erhalten.

Vom Universitätsklinikum Motol in Prag 5 ist bekannt, dass es einen speziellen Service für Ausländer anbietet. Das Krankenhaus ist die größte medizinische Einrichtung im Land. Fast eine Million Patienten im Jahr, mehr als 5.000 Mitarbeiter. Auch ein Qualitätskriterium für die ärztliche Versorgung?

Ein Wegweiser kurz hinter dem Eingang gibt die Richtung vor: Ausländer gleich vorne links. Zunächst eine breite Glastür mit Einlass für sie und Privat­patienten. Rechts unter dem Schild „Foreigner Reception“ ist ein Fenster geöffnet, doch steht davor ein Pflanzentopf. Der Raum dient nur noch der Verwaltung – Fremden-Schild hin oder her. „Staff only“, wie daneben an der Tür vermerkt ist.

Hinter dem Fenster gibt mir jedoch eine Verwalterin Zeichen, ein paar Meter weiter zu gehen. Dort sitzen Empfangs­damen an vier Plätzen hinter einer Holztheke wie früher Schalterbeamte bei der Deutschen Post. Eine junge Frau spricht gut Deutsch. „Sind Sie versichert?“, will sie als Erstes wissen. Nachdem sie meinen überraschten Blick bemerkt hat, fügt sie ein wenig entschuldigend an: „Wir haben in der Vergangenheit schlechte Erfahrungen gemacht.“

Dann hört sich die Mitarbeiterin meine Probleme an. „Aha, Trommelfell geplatzt“, konstatiert sie. Hoffentlich nicht, wehre ich zu meiner eigenen Beruhigung ab. Ihre Kollegin legt mir am Ende der Sitzreihe ein Formular zur Aufnahme vor. Bürokratie, nicht anders als in jeder deutschen Klinik.

Die Kollegin hat Englisch-Kenntnisse und verlangt meinen Ausweis. Dummerweise habe ich nur meinen deutschen Führerschein dabei. „In Tschechien ist der Ausweis immer mitzuführen“, belehren mich die beiden Frauen. „Ich kam letzthin in einer Prager Kneipe in eine Polizeirazzia und dabei wurde auch der Führerschein akzeptiert“, versuche ich mich halbherzig zu verteidigen. „Dann hatten Sie verdammtes Glück mit den Polizisten“, bleiben die Frauen streng. Trotzdem geben sie sich mit der Listennummer auf dem Papier zufrieden, nachdem wir herzhaft über mein 30 Jahre altes Bild darin gelacht hatten.

Abstand halten
„Es ist ein wenig kompliziert, in die HNO-Abteilung zu kommen“, erklärt schließlich die „Deutsche“ und begleitet mich freundlicherweise bis in den ersten Stock. Auf dem Weg dorthin teilt sie mir mit, dass meine Behandlung kostenlos ist. Sie würde von meiner deutschen Krankenkasse bezahlt. Auch als normaler Pflichtversicherter. „Außer Arzneimittel“, wie sie ergänzt. Nicht nötig also, den Auslandskrankenschutz einzusetzen, den ich privat bei einer anderen Versicherung abgeschlossen habe. Er hätte wohl auch keine bessere Behandlung ermöglicht, wie sich herausstellen wird.

Denn wir gehen auf die ganz normale HNO-Station des Krankenhauses, wo sie mich bis zur Tür für die Aufnahme führt. Und mit dem Hinweis verlässt, Aufnahmeformular und Krankenbericht nach der Behandlung unbedingt wieder bei ihr abzugeben. Bürokratie eben, wie in Deutschland.
Ich warte vor der Tür, genau am blauen Aufkleber „diskrétní zóna“ auf dem Fußboden. Ein äußerst diskreter Punkt. Die Tür ist geöffnet, doch kein Mensch weit und breit. Auch kein Licht in dem Zimmer. Dafür erscheint vorne auf dem Gang nach einer Weile eine korpulente Krankenschwester. Sie erklärt ohne Umschweife, nur Tschechisch zu sprechen. „Passport“, blafft sie mich an und gibt deutlich zu erkennen, dass sie mich ohne Legi­timation unverzüglich vor die Tür setzen wird. Und pfeift auf das Aufnahmeformular.

Völlig überraschend genügt ihr jedoch ebenfalls mein Führerschein als offizielles Dokument. Ich hatte allerdings sofort gebeichtet, dass mein Bild weit über 30 Jahre alt ist, um sie ein wenig milde zu stimmen.

Kurz vor 16 Uhr warten neben mir noch ein Inder, zwei Japaner und eine Tschechin. Kein Vergleich zu einer deutschen HNO-Praxis, wo um diese Zeit nicht selten Dutzende von Patienten Schlange sitzen. Die Nationalität eines jungen Burschen bleibt unklar, denn er hat sich (oder ihm wurde) das Nasenbein gebrochen, weshalb er fortwährend durch den Gang läuft und Mitleid erregend nach Luft schnappt. Gerade als er auf der Toilette ist, ruft die Schwester nach ihm. Ein Japaner holt „Nasenbein“ im Laufschritt zurück. Wie alle Wartenden befürchtet er einen Tobsuchtsanfall der Klinik-Mitarbeiterin, wenn der Patient nicht unverzüglich zur Verfügung steht. Und dies könnte schließlich die eigene Behandlung gefährden.

Es ist ein ganz normaler Dienstag und offenbar nur ein einziger Arzt im Dienst. Rund um die beiden anderen Behandlungs­zimmer herrscht völlige Stille. Vielleicht ist die Schwester deshalb genervt. Alle Asiaten versinken in ihren Smartphones, ungeachtet der zahlreichen Handy­verbot-Aufkleber auf vielen Türen des Krankenhauses. Die Tschechin studiert ihr Formular und prüft, ob alles richtig ausgefüllt wurde. Nicht untypisch für ordnungshörige Landesbürger. „Nasenbein“, soeben zurück, findet auf Facebook eine Nachricht seiner Freundin und damit allmählich wieder sein Lachen zurück.

Man weiß ja nie
16.20 Uhr: Weiterhin Ruhe wie auf einem Friedhof. Da öffnet sich endlich die Tür, ein Patient kommt aus dem Sprechzimmer. Mit weißer Watte in seinem verstopften Ohr. Er könnte mein Vorgänger sein …

Sechs Augenpaare richten sich auf die Schwester. Wem erweist sie jetzt ihre Gnade? Einem der Japaner natürlich, weil er als Nächster auf der Station ankam. Trotzdem erscheint angesichts ihres Auftretens die Frage nicht unangebracht, ob auch alle anderen Anwesenden ihrem prüfenden Blick standhalten werden. Selbst noch um 18 Uhr, denn so lange wird man möglicherweise warten müssen. Dagegen nehmen sich deutsche Ärzte in der Regel kaum mehr als fünf Minuten Zeit für jeden Patienten, fällt mir ein.

16.35 Uhr: Die Krankenschwester geht in einen kleinen Raum, spült und bringt eine Tasse Kaffee ins Arztzimmer. Wohl für den Mediziner, der nach jeder Behandlung – anders als in Deutschland – noch eigenhändig seinen Krankenbericht schreiben muss. Für die Verwaltung. Und die Bezahlung. Womit er mehr Zeit für jeden einzelnen Patienten braucht. Der Inder kommt mit der Tschechin ins Gespräch. Sie studiert Psychologie. Der Inder lässt sich ihre Telefon­nummer geben. Man weiß ja nie …

Kurz darauf trifft ein tschechisches Ehepaar fortgeschrittenen Alters auf der Station ein. Beide gehen erst einmal auf die Toilette. Zu groß die Aufregung.

16.58 Uhr: Nach knapp einer Stunde Wartezeit ruft mich die Schwester höflich auf. Sogar mit „Herr“ – obwohl sie doch nur Tschechisch spricht … Eine bildhübsche blonde Ärztin winkt mich herein. Noch ziemlich jung. „Sechs Jahre Studium, wie in Deutschland“, antwortet sie auf meinen vorsichtigen Hinweis. Also keinerlei Bevorzugung aufgrund des wachsenden Ärzte­mangels im Land, von dem immer wieder berichtet wird.

Sie wirkt erleichtert, als ich sie auf Tschechisch begrüße. Doch auch auf Englisch kommunizieren wir anschließend gut. Die Fachärztin bleibt betont sachlich und lässt sich das Problem genau schildern. Ich lege mich hin, sie schaut ins Ohr, „bitte die Nase zuhalten und kurz Druck erzeugen“. Dann konstatiert sie ein funktionierendes TrommelfeIl, weist aber darauf hin, nicht den gesamten Hörgang einsehen zu können.

Halb so schlimm
„Kein Fieber?“ Ich verweise auf einen nervigen „Hall-Effekt“. Und auf ein Gefühl wie bei Wasser im Ohr. Test mit einer Stimmgabel. Ergebnis wie gewünscht, links und rechts gleichermaßen zu hören. Offenbar kein beunruhigendes Ereignis, stellt die Fachfrau fest, doch könne sie zunächst keine eindeutige Diagnose stellen.

Ich erinnere an einen Hör­sturz vor ein paar Jahren und die Infusion damals. „Die Literatur sagt, dass Tabletten das gleiche Ergebnis bringen“, erwidert sie fachmännisch. Dafür seien aber weitere Untersuchungen nötig, ein Hörtest und so weiter, falls in den kommenden Tagen keine Besserung eintrete. „Dafür müssen Sie aber bis spätestens 14 Uhr zu uns kommen“, erläutert die Ärztin, zur Sicherheit gleich mehrfach. Ihr erster Rat jedoch: „Wasser meiden, ruhig bleiben – und erst einmal abwarten.“ Nicht auszuschließen, dass es automatisch eine Wende zum Guten gebe. Vielleicht kündige sich lediglich eine Erkältung an. Damit beweist sie nicht nur psychologisches Geschick, sondern auch hohe Kompetenz. Tatsächlich kommt die Hörleistung zwei Tage später allmählich und von allein zurück.

Als ich ihren Bericht gegen 17.15 Uhr an der Aufnahmestelle abgebe, sind dort bereits die meisten Lichter erloschen. Die „englische“ Mitarbeiterin nimmt ihn entgegen. Ich verspreche, beim nächsten Mal meinen Ausweis mitzubringen. Das sei nicht mehr nötig, sagt sie, denn nun sei ich ja bekannt und – vor allem – in der Kartei der Klinik erfasst. Die junge Frau mit den Deutsch-Kenntnissen ist noch da und erkundigt sich nach meinem Befinden. „Eventuell bis morgen“, antworte ich, „aber bis spätestens 14 Uhr.“

Sie stimmt zu. Und klärt auf: „An Nachmittagen wie heute arbeitet bei uns lediglich eine Notfallbesetzung“. Deshalb auch die große Ruhe auf der HNO-Station. Dort wartet jetzt nur noch ein Japaner. Die Laune der Krankenschwester hatte sich zuletzt mit jeder Minute spürbar verbessert.