Wuchernde Linien

Wuchernde Linien

Bunt und abstrakt: Museum Kampa stellt Kunstwerke von Josef Istler aus

1. 12. 2016 - Text: Katharina Haase, Bilder: Privatsammlung

An einer Wand, deren Hohlraum Schrauben und Zahnräder füllen, steht ein einäugiges Wesen und lauscht. Dahinter schaukelt der Strick eines Galgens im Wind, der durch ein offenes Fenster weht. Josef Istler schuf diese Lithografie im Jahr 1942. Sie ist das erste Bild, das dem Besucher der Ausstellung im Museum Kampa auffällt. Bis 15. Januar präsentiert es die Werke des Künstlers, der zu den bedeutendsten Vertretern des tschechischen Surrealismus gehört.

Im Jahr 1919 in Prag geboren, studierte Istler später bei Walter Hofner in Jugoslawien Kunst. Mit 27 Jahren trat er der surrealistischen Künstlergruppe „Ra“ bei. In den fünfziger Jahren gehörte Istler zum Intellektuellen-Kreis um Karel Teige. Im Samisdat arbeitete er mit an der Herausgabe verschiedener Sammel­bände. Seine abstrakten Bilder, die ­Melancholie und Angst widerspiegeln, durfte er nicht ausstellen. Eine große Retrospektive verbot die Kommunistische Partei im Jahr 1962.
In seinen frühen Werken verarbeitete Istler vor allem die Schrecken des Krieges. Sie zeigen sich in surrealistischen Szenerien mit Ruinen. Die frühen Figuren tragen meist menschliche Züge, selbst die Spinnweben in seiner berühmten Serie „pavučiny“ („Spinnennetze“) erinnern an pulsierende Adern.

„Die Figur“ entstand ein Jahr vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges.

Auf dem Gemälde „civilizace“ („Zivilisation“) aus dem Jahr 1943 ist das zerfließende Gerüst eines Fahrrads zu sehen, im Hintergrund färbt sich der Himmel blutrot. Istler schuf weitere Bilder mit diesem Titel, in denen sich eine Schattenfläche durch den Hintergrund frisst. Verschlingt die seltsame Form aus geometrischen Figuren und wuchernden Linien ihre Umgebung oder wird sie von dieser geschluckt? Diese Frage entspricht einem dominierenden philosophischen Thema der Nachkriegszeit: Sind totalitäre Regime ein natürliches Produkt von Zivilisation und Aufklärung oder werden letztere vom Totalitarismus zerstört?

Mit der chronologischen Ausstellung der Werke zeichnet das Museum Kampa die künstlerische Entwicklung Istlers nach. Sie beginnt mit einem Widerstreit zwischen Figur und Umwelt und endet in der Ab­straktion. Bei einigen von Istlers Bildern drängt sich das Wort „Flächenbrand“ geradezu auf. In seinen letzten Gemälden hat sich ein unkontrolliertes Chaos durchgesetzt und das Figurative besiegt. Wer Tschechisch versteht, dem vermittelt ein Film einen Einblick in Leben und Schaffen Istlers.

Die Arbeiten des im Jahr 2000 verstorbenen Künstlers wirken mitunter so intensiv, dass ein Blick aus dem Fenster auf die Prager Altstadt verstören kann. Neben Istlers Bilderwelt wirkt die Wirklichkeit draußen plötzlich unwahrscheinlich und abstrus.

Josef Istler. Museum Kampa (U Sovových mlýnů 2, Prag 1), geöffnet: täglich 10 bis 18 Uhr, bis 15. Januar, www.museumkampa.cz