„Wir waren wie zuhause“

„Wir waren wie zuhause“

Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen Hunderte slowakische Roma nach Prag. Für ein Projekt der Karls-Universität erzählen Zeitzeugen ihre Geschichten

27. 5. 2015 - Text: Corinna AntonText: Corinna Anton; Foto:

Wenn es um Menschen geht, die nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Heimat verlassen mussten, wird eine Gruppe oft vergessen. Tausende slowakische Roma wurden nach 1945 zwangsumgesiedelt, um Gegenden zu beleben, aus denen die deutschsprachige Bevölkerung vertrieben worden war. Andere führte die Suche nach Arbeit und besseren Lebens­bedingungen in den westlichen Teil der Tschechoslowakei. Wie es den Angehörigen der Minderheit erging, die sich in den vierziger und fünfziger Jahren in Prag niederließen, haben Wissenschaftler der Karls-Universität unter der Leitung von Helena Sadílková nun erforscht. Über mehrere Monate führten sie Gespräche mit Zeitzeugen und entwickelten daraus einen Stadtplan, auf dem sie die wichtigsten Stationen vieler Neuankömmlinge nachzeichnen.

Für die meisten Roma, die sich auf den Weg nach Westen gemacht hatten, begann das neue Leben am Prager Hauptbahnhof. Dort trafen sie schon auf die ersten „Anwerber“, die auf der Suche nach Arbeitskräften waren, oder auf Menschen, die ihnen eine vorübergehende Bleibe vermittelten. Ladislav Goral, der seit 1953 in Prag lebt, erinnert sich an seine Ankunft: „Ich hatte Glück, dass ich hier jemanden getroffen habe, der als Anwerber für einen Betrieb arbeitete. Seine Frau war in der Personalabteilung des Unternehmens beschäftigt. Beide waren um die 50 und hatten keine Kinder. Sie haben mich bei sich aufgenommen, als ob ich ihr Sohn gewesen wäre.“

Das Paar verhalft Goral auch zu einer Anstellung: „Ich habe den Baggerfahrern die Brotzeit gebracht und 500 Kronen verdient. Mein Gott, das war wirklich viel Geld.“ Wenn er etwas übrig hatte, schickte er es nach Hause an seinen Vater. Gorals Mutter und acht weitere Familienmitglieder waren 1944 von deutschen Soldaten erschossen worden. Nach dem Krieg wurden die Überlebenden zusammen mit anderen Roma innerhalb der Slowakei zwangsumgesiedelt. Über die Zeit nach 1953 sagt er heute: „Mein Leben in Prag war perfekt.“

Für andere Neuankömmlinge war es schwieriger, eine Unterkunft zu finden. Der Familie von Božena Virágová zum Beispiel wurden von den Behörden zwei Kellerzimmer ohne Möbel in der Lidická-Straße in Smíchov zugeteilt. Weil das Geld für die Einrichtung fehlte, habe sie anfangs auf dem Boden geschlafen, erzählt die Zeitzeugin, die damals noch zur Schule ging. „Leider hatten wir auch keinen Tisch, das war Luxus. Und ich hatte nichts, wo ich meine Hausaufgaben machen konnte.“ Sie freundete sich mit einer älteren Nachbarin an, die sie regelmäßig besuchte: „Ich half ihr beim Saubermachen und sie mir bei den Schularbeiten.“ Nicht nur in Prag hätten die örtlichen Behörden die Roma oft in heruntergekommene Wohnungen einquartiert, meint die Wissenschaftlerin Romana Hudousková. Eine Zeitzeugin, die mit Mann und Kindern am Arbes-Platz (Arbesovo náměstí) in einer Einzimmerwohnung ohne Wasser lebte, sagt: „In den Kellern wohnten nur Roma. Sie waren froh, dass sie niedrigere Mieten zahlen mussten, sie lebten in Häusern, die niemand wollte. Später hieß es, die Roma würden die Häuser kaputtmachen.“

Beim „Bürgermeister“

Neben ihren Wohnungen wurde für die Roma, die in Smíchov lebten, der Arbes-Platz ein wichtiger Treffpunkt. Täglich kamen dort alle Generationen zusammen, es gab sogar einen „Bürgermeister“ namens Tchán, bei dem sie sich häufig trafen. Dessen Schwiegertochter Monika Grundzová erzählt: „Seine Frau hat immer etwas gekocht. Dann hat man sich Geschichten erzählt, was alles passiert ist. Wenn die Männer von der Arbeit kamen, sind sie oft auf ein Bier in die Kneipe gegangen. Wir hatten in der Nähe eine Art Roma-Kneipe, wo der Wirt uns schon kannte. Dort waren wir wie zuhause. Man konnte auch mal anschreiben lassen, wenn man gerade kein Geld hatte.“

Ihren Lebensunterhalt verdienten die Männer oft in Baufirmen und Fabriken, in Steinbrüchen, Sandgruben, Ziegeleien, Eisenhütten oder Sägewerken. „Manche bewahren bis heute ihre Urkunden für ausgezeichnete Arbeitsleistungen als Nachweis der Wertschätzung durch die damalige Gesellschaft auf“, so der Wissenschaftler Jan Ort. Auch die Frauen waren in Fa-briken beschäftigt. Viele fanden Anstellungen als Hilfskräfte in Gasthäusern. Um ihre Familien ernähren zu können, ging eine der Zeitzeuginnen, die lieber anonym bleiben möchte, mehreren Beschäftigungen nach: „Ich stand um halb, dreiviertel vier morgens auf und ging saubermachen. Zuerst nach Prag 1, ins Restaurant U Medvídků. Da war ich so bis sieben. Ich räumte auf und ging nach Hause, brachte die Kinder zur Schule und ab elf arbeitete ich in der Küche.“ Nachmittags kümmerte sie sich kurz um die Familie, bevor sie bis sieben Uhr abends in einer Fleischerei arbeitete.

Eine angesehenere Art des Broterwerbs stand nur wenigen offen: Die Musikkapelle um den Geiger Michal Grundza etwa wurde in Smíchov so bekannt, dass sie in Weinstuben und Restaurants fast ausschließlich vor Nicht-Roma-Publikum spielte. Während sich die Musiker zunächst etwas dazuverdienten, konnten sie später von ihrer Kunst leben. Neben Grundzas Band, die bald ein ständiges Engagement in der Weinstube Šumická in der Nationalstraße (Národní třída) hatte und auch Václav Havel zu ihren Zuhörern zählte, traten auch andere Musikgruppen regelmäßig in angesehenen Lokalen auf. Im Hotel Ambassador am Wenzelsplatz spielte die Kapelle „Roma Štar“, weitere Bands unterhielten das Publikum in den Restaurants „U Železných vrat“ und „Zlatá konvice“ in Prag 1 oder im „Koliba“ in Nusle.

Keine Unterschiede

Vor Angehörigen ihrer eigenen Ethnie traten die Musiker bei Taufen und Hochzeiten auf – und in Gasthäusern wie dem „Na Hromádkové“ in der Nähe der Villa Bertramka oder dem „U Rybářky“ („Zur Fischerin“) in der Zubatý-Straße: „An der Ecke hatten wir unsere Roma-Kneipe, etwa 20 Jahre lang gingen wir dorthin. Es kamen aber auch Nicht-Roma als Stammgäste. Und es machte ihnen nichts aus, dass wir Roma waren. Sie spielten Karten mit den Männern, machten keine Unterschiede, das gab es damals nicht“, so Monika Grundzová. Heute dagegen sei das anders, bedauert sie: „Jetzt sagen sie einem normalerweise öffentlich: Nein, Zigeuner bedienen wir nicht – und wir gehen. Nur zu den Vietnamesen, dahin können wir noch. Dort lassen sie uns hinein. Aber in ein tschechisches Restaurant? Da haben wir keine Chance. Und wenn doch, dann weil man sich kennt.“

Das Zusammenleben, das die Zeitzeugin Grundzová nostalgisch beschreibt, schildert die Wissenschaftlerin Sadílková ähnlich: Nach 1948 habe sich durch die Politik der Arbeitspflicht und der sozialen Sicherung, durch die Protegierung der Arbeiterberufe und den Versuch, die Rassendiskriminierung zu zerschlagen, „für Roma eine in ihrer bisherigen Geschichte beispiellose Möglichkeit des sozialen Aufstiegs“ eröffnet. „Eingliederung in Arbeitskollektive, Schulbesuch und Wehrpflicht ließen neue Formen persönlicher Kontakte zwischen Roma und der Bevölkerungsmehrheit entstehen, neue Beziehungen entstanden auch zu den Nachbarn, einschließlich verschiedener einander fremder Gruppen von Roma.“ Ende der fünfziger Jahre habe die Kommunistische Partei die Roma jedoch als „sozial zurückgebliebene Gruppe“ eingestuft und eine Assimilationspolitik ausgerufen, so Sadílková.

Dass die befragten Zeitzeugen heute dennoch eher zufrieden an die gesamte Epoche des Sozialismus denken, die sie mit materieller Sicherheit und „einem Gefühl des Angenommenseins oder wenigstens der Toleranz durch die Bevölkerungsmehrheit“ verbinden, führt Sadílková auf „die Konfrontation mit der harten Realität seit den neunziger Jahren“ zurück, „die neben der Freiheit und der Anerkennung als nationale Minderheit für viele Roma-Familien einen tiefen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fall gebracht haben“.

Als Ergebnis des Forschungsprojekts des Seminars für Roma-Studien am Institut für Mitteleuropäische Studien der Karls-Universität entstand ein Online-Stadtplan mit Zeitzeugenberichten, der vom Multikulturellen Zentrum Prag auch auf Deutsch herausgegeben wurde: www.praha.mkc.cz/de