Wann kommt die nächste Flut?
Sechs Monate nach dem Hochwasser: Ein Besuch in Zálezlice, dem Symbol der jüngsten Flutkatastrophen in Tschechien
20. 11. 2013 - Text: Maria SilenyText und Foto: Maria Sileny
Es war, als ob Mittelböhmen am Meer liege. So weit man sehen konnte: Wasser. Der Bürgermeister der 400-Seelen-Gemeinde Zálezlice steht auf dem Deich, dessen Bau Ende November offiziell beendet wird, und zeigt auf die flache Wiesenlandschaft, die sich bis zum Horizont ausbreitet. Er spricht von der Flut, die das Dorf, das nahe dem Zusammenfluss von Moldau und Elbe liegt, heimgesucht hat.
Beide Flüsse sind aus ihren Ufern getreten, der Deich, der damals noch nicht fertig war, konnte den Wassermassen nicht standhalten. Und so passierte, was keiner gedacht hätte: Zálezlice wurde vom Hochwasser verwüstet – nur elf Jahre nach der Jahrhundertflut 2002, die das Dorf in der Nähe von Mělník fast dem Erdboden gleich machte.
Ein halbes Jahr ist es her, dass Tschechien vom Hochwasser heimgesucht wurde. Die Prager Innenstadt blieb im Gegensatz zum Jahrhunderthochwasser 2002 verschont – auf Kosten anderer, hieß es damals in vielen tschechischen Städten. Auch entlang des Elblaufs im benachbarten Sachsen wurde Kritik am Hochwasser-Management der Tschechen laut.
Riesige Lastwagen wühlen durch den Schlamm an der Baustelle in Zálezlice. Noch soll asphaltiert werden, im Frühjahr wird ein Rasen den Deich verschönern, Obstbäume werden gepflanzt. Archäologische Arbeiten und langwierige Auseinandersetzungen mit privaten Grundstückseigentümern haben den Beginn der Bauarbeiten verzögert. Doch nun ist der Kampf gewonnen. Im Dezember – Bürgermeister Jiří Čížek legt Wert auf das besondere Datum 11.12.13 – wird der Deich feierlich eingeweiht, zugleich findet ein symbolisches Schließen des Ortes vor dem Hochwasser statt. 47 Millionen Kronen hat der Bau gekostet – gut investiertes Geld, zumal Naturwissenschaftler davon ausgehen, dass in den nächsten Jahrzehnten in Mitteleuropa Hochwasser und Fluten häufiger auftreten werden.
Mit dem Wasser leben
Der renommierte Ökologe Václav Cílek warnt: „In den kommenden 50 Jahren ist mit zwei bis drei Flutwellen zu rechnen, eine von ihnen wird vermutlich mindestens so hoch sein wie die im Jahre 2002.“ Seine Prognose stützt der Wissenschaftler auf klimatologische Beobachtungen der letzten 500 Jahre und Ergebnisse einer Reihe europäischer Studien. Da im 20. Jahrhundert, insbesondere in seiner zweiten Hälfte, Hochwasser seltener vorgekommen ist, habe die Gesellschaft das Naturphänomen aus ihrem Gedächtnis verdrängt. Nun müsse man erneut lernen, mit dem Wasser zu leben.
Das Wartehäuschen an der Bushaltestelle in Zálezlice erinnert die Bewohner täglich an die schwelende Gefahr. Mit bunter, naiver Malerei, die erheitert statt bedrückt. Zwischen Wassermännern und munteren Fischen steht die Inschrift: „Im Jahre 2002 wurde die Ortschaft vom Hochwasser gedemütigt, durch menschlichen Willen und die Solidarität wieder erneuert.“ Dicke Striche zeigen die Wasserhöhe 2002 und 2013.
Wer heute durch Zálezlice geht, merkt nichts von den massiven Verwüstungen, die das Wasser hinterließ. Die Straßen sind saubergefegt, stolz zeigt Bürgermeister Čížek die gepflegte Parkanlage und den neuen Kinderspielplatz. Die Kanalisation ist gereinigt, am Straßenrand stehen Container für die Mülltrennung. Jiří Čížek mag den Blick auf die frisch gepflanzte Baumallee entlang der Straße ins benachbarte Kozárovice. Dorthin steuert er seinen roten Renault.
Gegenüber dem neu gebauten Buswartehäuschen von Kozárovice steht ein Baumstamm, der an die Höhe des Hochwassers 2002 erinnert. Schafe weiden daneben und blinzeln in das milchige Licht der Herbstsonne. Doch die Idylle trügt. Das Wasser kann wiederkommen. In Kozárovice ist bei der letzten Flut der Damm gebrochen. Die Firma, die ihn nach dem Hochwasser 2002 repariert hat, verwendete statt Sand und Lehm Bauschutt. „Kabel, Tonbänder, sogar Essbesteck fanden sich dort“, so Jiří Čížek. Die Reparaturen werden noch bis zum Frühjahr dauern. Čížek treibt die Sache voran. Denn er weiß: Für Hochwasser muss man rechtzeitig bereit sein. Vorhersagen sind kaum zu treffen. Wenn überhaupt, sind sie erst wenige Tage im Voraus möglich. Dann kann es bereits zu spät sein. Aus den beiden Flutkatastrophen hat Zálezlice gelernt . „Wenn im südböhmischen Budějovice das Wasser gefegt wird, wissen wir, dass die Flutwelle in drei Tagen bei uns ankommt“, erklärt Čížek die bittere Lehre aus 2002.
Jedem das Seine
Doch in diesem Jahr sei alles viel schneller gegangen. Und so lernte das Dorf erneut dazu: Jedes Hochwasser ist anders. „Zwar kam weniger Wasser, dafür war es wild und reißend“, erzählt der Bürgermeister. Weil aus den Stauseen der „Moldau-Kaskade“ Wasser abgelassen wurde, um Prag zu schützen. Die Kaskade ist ein System von neun aneinandergereihten Stauseen, alle flussaufwärts von Prag gelegen, und sorgte im Juni für heftige Diskussionen. Zu spät sei Wasser aus den Stauseen abgelassen worden und zu viel auf einmal, hieß es. Kleinere Orte an der Moldau seien dem Schutz der Großstadt geopfert worden.
Čížek erinnert sich: „Die Welle, die weitergeschickt wurde, bekam Schwung, stieß gegen Mělník und ergoss sich hier bei uns.“ Er sagt es ohne Vorwurf. Und meint: „Jeder versucht das Seine zu retten. Wir auch. Nächstes Mal wissen wir, worauf wir gefasst sein müssen.“ Bürgermeister nahegelegener Städte wie Kralupy und Mělník sehen das anders. „Es hat uns sehr aufgeregt, dass aus den Moldauer Kaskaden mehr und mehr Wasser abgelassen wurde. Für uns in Kralupy ging es um jeden Zentimeter“, sagte im Juni der dortige Bürgermeister der Zeitung „Lidové noviny“.
Stets bereit an der Moldau
Ökologe Cílek weist auf die Hochwasserrichtlinien der EU hin. Sie bestimmen, dass Maßnahmen, die an einem Ort helfen, Nachbarn im Flussgebiet nicht gefährden dürfen. Da Hochwasser nicht an Grenzen Halt macht, empfiehlt Cílek, in Europa gemeinsam vorzugehen. Hilfreich wäre seiner Meinung nach eine tschechisch-deutsche wissenschaftliche Kommission, die sich damit befassen würde, wie eine Flut verläuft und wie die „Moldau-Kaskade“ am besten zu steuern sei, um Schäden zu senken.
Gerade weil Überschwemmungen künftig häufiger zu erwarten sind, fordert der Wissenschaftler ein Umdenken: Dämme bauen ist gut, doch das allein reicht nicht. Genauso wichtig sei es, die Landschaft so zu gestalten, dass sie Wasser halten kann. Das hieße etwa Monokulturen einzuschränken und eine bunte Vielfalt von Pflanzen zu pflegen. Eine langfristige Aufgabe für Generationen. Doch wer meint, es gäbe einen absoluten Schutz gegen Hochwasser, der irrt.
Kozárovice zum Beispiel könnte nur durch einen hohen runden Wall wirklich geschützt werden, meint Jiří Čížek. Der Deich, der bis zum Frühjahr repariert wird, kann nur eine kleinere Flut auffangen. Čížeks Motto lautet deshalb: immer bereit sein. Er hat einen Notstromgenerator angeschafft, Container für geschädigte Einrichtungsgegenstände und Ladevorrichtungen stehen bereit. Ein Boot wartet auf Einsatz. Wichtig sei die Gießmaschine, um Schlamm abzuwaschen, bevor er hart wird. „Das Hochwasser kommt bei uns nicht blitzartig, wir haben Zeit, die Häuser auszuräumen“, sagt Čížek. Was noch fehlt, sind Lagerräume für Möbel und Zufluchtsorte für Menschen, die ihre Häuser verlassen müssen. Das ist die nächste Aufgabe, die der Bürgermeister jetzt anpacken will. Was bisher fehlt, ist das nötige Geld.
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