Vom Abgrund in den Untergrund

Der Mährische Karst bietet viele Gründe für Erkundungs- und Ausflugstouren

21. 8. 2013 - Text: Peggy LohseText und Foto: Peggy Lohse

Am Abgrund, zu Füßen der Aussichtsplattform, liegt versteckt unter Baumkronen eines der bedeutendsten Karstgebiete Mitteleuropas. Rund 35 Kilometer nördlich von Brünn erstreckt sich der Mährische Karst, der auf einer Fläche von gerade einmal 92 Quadratkilometern zu Erkundungstouren und Ausflügen über und unter der Erde einlädt.

Dort, wo sich heute Aussichtspunkt, Souvenir-Stände und ein Restaurant befinden, soll einst die böse Stiefmutter Macecha ihren Stiefsohn in die Schlucht gestoßen haben. Dieser habe sich laut der Legende jedoch in den Ästen starker Bäume verfangen und konnte von den Dorfbewohnern gerettet und aufgezogen werden. Als jene die wahre Geschichte ihres Findelkindes erfuhren und die vermeintliche Kindesmörderin bestrafen wollten, stürzte diese sich selbst die Kluft hinunter – und hatte nicht so viel Glück wie ihr Stiefsohn. Bei Gewitter soll, so die Überlieferung, aus dem Grund der Schlucht das Weinen und Stöhnen einer Frau zu hören sein. So kam die Schlucht zu ihrem Namen: Macocha.

Der Grund der Schlucht ist von oben kaum zu erkennen. Er liegt 138,5 Meter tief und nur wenige Minuten am Tag leuchtet die Sonne die Schlucht bis in den letzten Winkel aus. Von der unteren Aussichtsplattform, in mittlerer Höhe am Nordhang, stehen die Chancen auf Einsicht besser und Macocha entfaltet ihre beeindruckend-bedrohliche Wirkung.

Vom Bunker zum Wanderziel

Ein enges Netz vorbildlich ausgeschilderter Wander- und Radwege unterschiedlicher Schwierigkeitsgrade führt durch romantische und einzigartige Felsformationen zwischen den Ortschaften Blansko, Sloup, Jedovnice und Křtiny. Auf verschiedenen Routen geht es zwischen hohen, steilen Karstgesteinwänden hindurch, an ihnen vorbei oder an Wasserläufen entlang. Immer wieder reizen kleine Höhleneingänge und Felsentore die Neugier der Besucher.

Das touristische Zentrum bildet Skalní mlýn (Felsenmühle). In kürzeren Fußmärschen sind von hier aus, neben der Macocha, auch einige der berühmten Tropfsteinhöhlen zu erreichen. Bislang wurden über 1.100 Höhlen und insgesamt mehr als 35 Kilometer Höhlennetz erschlossen. Für die Öffentlichkeit sind jedoch nur fünf Höhlen zugänglich. Bei Sloup kann die Sloup-Šošůvka-Höhle besichtigt werden. In der Nähe von Křtiny ist die Výpustek-Höhle für Besucher geöffnet, die ab der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts einen Atombunker und heimlichen Befehlsstandort der Deutschen und Tschechoslowakischen Armee beherbergte.

Vom Herzen des Mährischen Karsts, der Felsenmühle, aus kann in der Kateřina-Höhle der größte freigelegte unterirdische Raum besichtigt werden. Dieser ist 96 Meter lang, 44 Meter breit und 20 Meter hoch. Und für all diejenigen, die es sich noch nie merken konnten, wie genau welches Tropfsteingebilde heißt, wiederholt der Höhlenführer gern immer wieder: Stalaktiten hängen von der Decke und bilden damit optisch ein T. Stalagmiten stehen auf dem Boden und zwei Stalagmiten nebeneinander formen ein optisches M. Stalagnate nennt man die aus beiden zusammengewachsenen Figuren. Diese Eselsbrücke wiederholt auch die Höhlenführerin der wohl berühmtesten und meistbesuchten Tropfsteinhöhle der Tschechischen Republik: der Punkva-Höhle.

Engel aus Stein

Der Eingang wirkt wie der eines beliebigen Museums, bald schon jedoch führt der Weg einen engen, dunklen Stollen hinab in die Unterwelt des Mährischen Karsts. Die erste Hälfte des Weges wird zu Fuß absolviert. Der erste Raum erinnert an einen Palast aus Kalkstein. Wie Vorhänge hängen Stalaktiten von der Decke, wie Säulen stehen Stalagmiten im Raum. Die Kalkgebilde werden in warmen Farben angestrahlt. Besucheraugen schauen ehrfürchtig, die Stimmung ist feierlich. Es folgt der „Spiegelsee“, in dessen Raum die Reiseleiterin über das Verbot des „freiwilligen Verlaufens“ informiert. Aber wer möchte sich schon zwischen „Eulen“ und „Kaninchen“ aus feuchtem Kalkstein verlieren?

Das „Reichenbach-Haus“ ist der am häufigsten von Hochwasser heimgesuchte Raum, da er am tiefsten liegt. Zuletzt war er im Jahr 2006 fast bis zur Decke überschwemmt. Kurz vor dem vorläufigen Ausgang an Tageslicht steht der „Engel“ in einem Zimmer aus Kalk, gleich einem königlichen Gemach. Sein Kopf ist nur mit Mühe an der Höhlendecke zu erkennen, als trüge er seinen Kopf in den Wolken. Angeblich ist der „Engel“ die aktivste Tropfsteinfigur in der Punkva-Höhle. Darauf folgt der Grund der Macocha-Schlucht. An ihrer tiefsten Stelle befindet sich ein kleiner, azurblauer See aus den unterirdischen Wasserläufen der Punkva. Die obere Aussichtsplattform ist von hier aus kaum zu erkennen.

Das letzte Drittel der insgesamt 1,2 Kilometer langen Strecke besteht aus einer Bootsfahrt auf der Punkva. Nur schwer kommen die Boote um die verwinkelten Kurven, die der Fluss durch die dunklen Höhlen zieht. Sowohl die Wasser- als auch die Lufttemperatur betragen im gesamten Höhlensystem ganzjährig 7 bis 8°C. Das Interesse ist dementsprechend an heißen Sommertagen besonders hoch. Ein Zwischenhalt wird am „Masaryk-Dom“ eingelegt, einem hohen Raum, dessen Decken sich trichterförmig in das viele Dutzend Meter hohe Steinmassiv über ihnen winden. Dieser gilt als schönster Raum des ganzen Punkva-Höhlensystems. Wenige Minuten später verlässt das Boot den Untergrund und die Besucher kehren zurück in die überirdische Wirklichkeit, vorerst in diejenige des Naturschutzgebietes Mährischer Karst. Das Waldgrün wirkt nach einiger Zeit in der Höhle gleich viel satter und intensiver.