Vergangen und vergessen

Vergangen und vergessen

In „Die Deutschen“ erzählt Jakuba Katalpa von einer geheimnisvollen Großmutter und der Schwierigkeit des Erinnerns

1. 12. 2015 - Text: Corinna AntonText und Foto: Corinna Anton

 

Mehr Lust zu Lesen macht auf den ersten Blick die tschechische Ausgabe. Mit den schwarzen, roten und goldenen Gummibärchen auf weißem Untergrund und den krummen Kleinbuchstaben, die sich zum Titel „němci“ formen, verspricht Jakuba Katalpas 2012 erschienener Roman eine lockere Lektüre. Das kann man von der nun veröffentlichten deutschen Übersetzung nicht behaupten. Der Umschlag ist in Dunkelblau und Brauntönen gestaltet, „Die Deutschen“ ist darauf kerzengerade zu lesen und auch der Untertitel „Geographie eines Verlustes“, der auf dem tschechischen Cover fehlt.

Es ist offenkundig, dass der Balaena-Verlag aus dem bayerischen Landsberg am Lech einen anderen Blick auf die Geschichte zwischen den Buchdeckeln hat als der Brünner Host-Verlag, der das Original herausbrachte. Und damit ist das Thema des Romans schon umrissen. Denn Katalpa, geboren 1979 in Pilsen, macht genau diesen Blick auf die Dinge zum Gegenstand ihres Romans. Sie beschäftigt sich mit den deutsch-tschechischen Beziehungen im und nach dem Zweiten Weltkrieg. Aber statt wie viele vor ihr zu fragen, was passiert ist, wer schuldig war und wer Opfer, beschäftigt sie sich mit der Unmöglichkeit, diese Fragen zu beantworten. Und sie unternimmt gar nicht erst den Versuch, „die Geschichte“ zu erzählen, sondern schafft ein Mosaik aus schier endlos vielen kleinen Geschichten, die manchmal zusammenpassen, zwischen denen oft aber auch eine Lücke bleibt.

Die Rahmenhandlung ist schnell erzählt: Eine junge Tschechin, selbst gerade Mutter geworden, fährt nach dem Tod ihres Vaters nach Deutschland, um herauszufinden, wer die geheimnisvolle Großmutter war, die sie bis dahin nur als Absenderin von Päckchen mit Süßigkeiten kennt (daher die Gummibärchen auf dem tschechischen Cover). Der Name der Großmutter ist Klara Rissmann, geboren 1912, sozialisiert in einer Familie, die den wachsenden Einfluss der Nationalsozialisten kommentarlos hinnimmt: „Vieles schien ihnen merkwürdig; sie waren keine Antisemiten und die Maßnahmen gegen die Juden fanden sie übertrieben; dennoch dachten sie nicht weiter darüber nach, geschweige denn, dass sie etwas dagegen unternommen hätten. Wenn sie etwas beunruhigte, dann höchstens die Gefahr, aus dem Leben, das sie führten, herausgerissen zu werden; Zurückhaltung, ja Schweigen schien ihnen der beste Schutz.“

Klara wird Lehrerin und lässt sich – vor allem aus Angst vor einem Bombenangriff – in den kleinen Ort Ersen im Sudetenland versetzen. Dort verhalten sich die Einheimischen skeptisch ihr gegenüber, sie fürchten, die Reichsdeutsche werde sie ausspionieren. Tatsächlich verlangt ein Vorgesetzter von Klara, regelmäßig Bericht nach Berlin zu erstatten. Sie kommt der Aufforderung nach, der Inhalt ihrer Briefe ist allerdings frei erfunden. Kurz vor Kriegsende fürchtet Klara, dass sich „zwischen den Reichs- und den Sudetendeutschen (…) wieder ein Spalt auftun“ werde und sie dann „auf der falschen Seite (stünde) mit all ihren Reichsdokumenten und diesen Briefen, in denen sie die nach einem ungeschriebenen Gesetz vorerst unter ihr stehenden Lehrer denunzierte“.

Doch zunächst muss nicht Klara den Ort verlassen, sondern die Sudetendeutschen. Weil es keine Papiere gibt, die den Aufenthalt der Lehrerin belegen, bleibt sie als Arbeiterin auf einem Hof und beobachtet, wie das Dorf sich verändert: „Einige der Häuser blieben unbewohnt, und außer der tschechischen Sprache gab es nichts, was die neuen Einwohner Ersens verbunden hätte. Sie kamen aus den unterschiedlichsten Landesteilen und die meisten hatten keinerlei landwirtschaftliche Erfahrung.“

Klara und ihr ehemaliger Kollege Fuchs werden von den neuen Hofbesitzern gut behandelt und schließlich sogar als „unsere Deutschen“ bezeichnet. Dennoch droht schließlich auch der mittlerweile hochschwangeren Klara die Abschiebung – zu Recht, könnte man meinen, sie ist ja als Besatzerin gekommen. Doch so einfach macht es die Autorin den Lesern nicht, ihre Figuren zu verurteilen. Sie erzählt nicht von Tätern und Kollaborateuren, sondern von Müttern und Witwern, von Tumoren, Ängsten und Alpträumen.

Wie es dazu kommt, dass Klara ihren Sohn in Prag zur Welt bringt und kurz darauf allein zurücklässt, rekonstruiert die Erzählerin, Klaras Enkelin, etwa 60 Jahre später gemeinsam mit ihrer Stieftante. Dabei wird deutlich, wie schwierig die Suche nach der Wahrheit ist, wenn jeder seine vorgefertigte Version im Kopf hat: „In Oma Rissmanns kleinem Arbeitszimmer waren an diesem Tag die Legenden zweier Familien aufeinander­getroffen, und ich hatte mich außer­stande gesehen, einfach alles, was unser Vater uns erzählt hatte, zu vergessen“, heißt es am Ende des Romans. Und an anderer Stelle: „Das Gefühl erlittenen Unrechts tat sich zwischen uns wie ein Abgrund auf.“ Ein Satz, der noch heute oft passt, wenn Tschechen und Sudetendeutsche aufeinandertreffen.

Für Klarheit könnte nur Klara selbst sorgen, die zu Beginn des Romans hochbetagt in einem Altenheim lebt. Sie leidet allerdings an Alzheimer – die Erinnerung ist für ihre Nachfahren verloren. „Manchmal träumten wir davon, dass Oma Rissmann aus ihrem Dämmerschlaf erwacht, gesund und mit funktionierendem Gedächtnis, um uns alles zu erzählen, was wir noch nicht wussten.“ Aber die Hoffnung ist vergeblich. Stattdessen bleibt der Erzählerin und ihrer Stieftante nur die Erkenntnis, dass jede ihre eigenen Erinnerungen hat – und ein Satz, von dem man sich wünscht, dass ihn sich viele zu Herzen nehmen: „Das, was jetzt von Belang ist, liegt nicht in der Vergangenheit.“

Jakuba Katalpa: Die Deutschen. Geographie eines Verlustes. Aus dem Tschechischen von Doris Kouba. Balaena-Verlag, Landsberg am Lech 2015. 420 Seiten, 22,90 Euro, ISBN 978-3-9812661-7-7