„Unsere Politiker haben keine Visionen“

„Unsere Politiker haben keine Visionen“

Schriftsteller Pavel Kosatík über die tschechische Krux mit den Eliten und das vergessene europäische Comeback

3. 4. 2013 - Interview: Klaudia Hanisch

In der Gesprächsreihe „20 Jahre Tschechien – Eine Inventur“ lässt die „Prager Zeitung“ herausragende Meinungsführer Bilanz ziehen. Wo steht Tschechien 20 Jahre nach der Staatsgründung? Diesmal stand Pavel Kosatík Rede und Antwort. Er schreibt Sachliteratur über Geschichte und Träume seiner Landsleute. PZ-Mitarbeiterin Klaudia Hanisch traf ihn in seiner Prager Wohnung, die eher der Bezeichnung Bibliothek gerecht wird. Hier entstehen Kosatíks prämierte Bücher.

In Ihrem Buch „České snění“ („Tschechische Träume“) haben Sie vergangene und gegenwärtige Tagträume der Tschechen analysiert. Was hat Sie am meisten überrascht?
Pavel Kosatík: Ein allgegenwärtiges Klischee ist das der Tschechen als eine plebejische Nation – und leider muss ich sagen, es entspricht den Tatsachen. Eine horizontale Ausdifferenzierung der Gesellschaft ist ausgeblieben. Idealerweise übernimmt die gesellschaftliche Spitze die größte Verantwortung gegenüber den anderen Teilen der Gesellschaft, sie richtet ihr Handeln nach dem Wohle der Allgemeinheit. In Tschechien wurden alle auf dem gleichen niedrigen Stand gehalten. Jeder der emporsteigen wollte, wurde bald wieder degradiert. Diese Mentalität zeigte sich erneut bei den Präsidentschaftswahlen, als einer der Kandidaten als arrogant empfunden wurde, weil er nicht in das Bild eines durchschnittlichen Tschechen passte. Ich hatte den Eindruck, viele Menschen fühlten sich durch Schwarzenberg persönlich beleidigt.

Bis heute glauben die Tschechen, sie seien eine plebejische Gesellschaft?
Kosatík: Wenn man sich vergegenwärtigt, wie die Menschen hierzulande denken und welche Argumente während der Debatten fallen, dann merken Sie, dass es keine legitimierte gesellschaftliche Elite gibt, die die staatstragenden Aufgaben mit allen ihren Konsequenzen übernimmt. Es gibt zwar Vertreter einzelner Gruppen, etwa den Theologen und Soziologen Tomáš Halík, der die Christen vertritt. Ich befürchte jedoch, dass die meisten bei dem Gedanken an ihn mit den Zähnen knirschen. Wenn auch aus irrationalen Gründen heraus, ohne seine Argumente zu kennen.

Nach der Wende kam es doch zu einer Ausdifferenzierung der Gesellschaft – zumindest wenn man nach dem Vermögen urteilt. Die Krise 2008 hat die Unterschiede noch verstärkt…
Kosatík: Das ist zwar passiert, aber bei einer gesellschaftlichen Elite denke ich an Menschen, die tatsächlich Verantwortung übernehmen. Das klingt zwar ein bisschen moralistisch, aber anders geht es nicht.

In Ihren Büchern sprechen Sie über die tschechische Intelligenz. In Ostmitteleuropa war diese traditionell für gesellschaftliche Entwürfe zuständig. Gibt es noch eine Intelligenz in diesem Sinne?
Kosatík: Sie existiert, aber das Problem ist, wie sie von der Mehrheitsgesellschaft aufgefasst wird. Václav Klaus erzählte 20 Jahre lang, dass nur die vom Volk gewählten Repräsentanten in der Öffentlichkeit ihre Stimme erheben dürften. Er als Gewinner der Wahlen könne sprechen, die Verlierer sollten schweigen. Für diejenigen, die bei den Wahlen erst gar nicht angetreten sind, gelte das noch stärker. Journalisten seien dafür da, die Politik der Regierenden in den Augen der Leser zu legitimieren. Leider habe ich das Gefühl, dass viele Leute die Meinung von Klaus teilen. Mittlerweile ist das zu einem landläufigen Muster in der Politik geworden und wird quasi intuitiv weitergetragen. Das ist Machtpolitik in Tschechien.

Aber es entstehen doch ständig neue Bürgerinitiativen. Können aktive Bürger an der gesellschaftlichen Ordnung mitwirken?
Kosatík: Bürgerinitiativen existieren zwar, aber ihr Einfluss ist sehr begrenzt. Auf der höchsten politischen Ebene werden sie schlicht ignoriert.

Die tschechischen Parteien erscheinen eher konservativ als progressiv. Es gibt wenig neue Ideen, wohin man steuern möchte. Vielmehr möchte man das erhalten, was man schon hat. Warum ist das so?
Kosatík: Das liegt daran, dass Tschechien ein kleines Land ist. Die politische Szene ist überschaubar. Je kleiner ein Land, desto pragmatischer die politische Klasse. Innerlich treibt sie nichts dazu an, große Vision zu entwickeln.

Die junge Generation hat im Januar mehrheitlich für Schwarzenberg gestimmt. Werden diese jungen Leute den Charakter der Politik verändern?
Kosatík: Immer wenn einem nichts mehr zur Verbesserung der aktuellen politischen Situation einfällt, sagt man, dass man die Hoffnungen in die Jungen setzt. Ich möchte keine falschen Illusionen nähren: Diese Gesellschaft befindet sich in einem schlimmeren Zustand, als es sich viele eingestehen möchten. Anstatt aus einer gründlichen Analyse heraus, entsteht hier alles aus irrationalen Beweggründen. So glauben viele immer noch, dass man gegen den Kommunismus kämpft. Die Jungen werden nicht gegen den Totalitarismus kämpfen müssen. Ihre Aufgabe ist es, gesellschaftlichen Zusammenhalt zu schaffen. Das ist eine sehr schwierige Aufgabe. Wenn sie einen Tschechen fragen, was es bedeutet, Tscheche zu sein, wird er es Ihnen wahrscheinlich nicht sagen können oder es mit der Unterstützung der Nationalmannschaft gleichstellen. Aber das ist ein sehr passiver Zugang.

Das klingt ziemlich pessimistisch. Wo sehen Sie Tschechien in zehn Jahren?
Kosatík: Es fällt mir schwer, darauf eine Antwort zu finden. Die Europäische Union wird wahrscheinlich eine größere Rolle spielen müssen. Im Moment wird Europa entweder idealisiert oder dämonisiert. Die Leute hier verstehen nicht, auf welchen Grundsätzen die EU nach dem Zweiten Weltkrieg konzipiert wurde. Tschechien liegt mitten in Europa und ist Mitglied vieler internationaler Organisationen, aber mental sind wir das noch lange nicht. Mich fasziniert, dass in Europa nicht einmal von uns erwartet wird, dass wir uns stärker einbringen. In den 1990er Jahren war das anders. Das Motto „Die Rückkehr nach Europa“ war sehr populär, die Leute wollten wirkliche Europäer werden. In den letzten fünf bis zehn Jahren kommt man davon immer stärker ab, wir sind zu einem unberechenbaren Partner geworden. Diese Tatsache sollte Gegenstand einer breiten gesellschaftlichen Debatte werden.

Sehen Sie in der tschechischen Geschichte eine Tradition, an die Sie heute gerne anknüpfen würden?
Kosatík: Ich bin mir in der Tat nicht sicher, ob man den Traditionen, an die man hier glaubte, etwas Substantielles abgewinnen kann. Auch aus der Zeit der Ersten Republik fällt mir nichts ein. Die heutigen Herausforderungen sind ganz anderer Natur. Die Politiker von damals, zum Beispiel Masaryk, hatten neben konkreten politischen Vorstellungen auch ihren christlichen Glauben. Heute ist es schwierig, einen Politiker zu finden, der eine Vision hat. Es dominieren Pragmatiker, die sich nach ökonomischen Theorien richten, eine ganzheitliche Vision von der Welt haben sie aber nicht. Auch Schwarzenberg hat keine.

Die Zeit der großen Narrative scheint vorüber. Kaum jemand glaubt an eine Geschichtsphilosophie. Andererseits schreiben Sie Bücher über Geschichte, die sich ganz gut verkaufen. Es scheint die Menschen doch zu interessieren. Ist das nicht ein gewisses Paradox?
Kosatík: Man sehnt sich schon nach großen Narrativen. Aber hierzulande macht man aus der Resignation viel zu oft eine Tugend. Wer noch nicht resigniert hat, gilt als überambitionierter Wirrkopf und wirkt in den Augen vieler bisweilen ein wenig lächerlich.

Was war der größte Fehler, den die Tschechen in den vergangenen zwanzig Jahren gemacht haben?
Kosatík: Die Fundamente, auf denen dieser Staat aufgebaut wurde, sind nicht fest genug. Man hat zu wenig darüber nachgedacht, worauf man bauen kann. Es kam zu einem Ideentransfer aus dem Westen. Alle möglichen Institutionen wurden kopiert. Doch der Rechtsstaat funktioniert bis heute nicht richtig. Nicht einmal Václav Klaus respektierte die demokratischen Institutionen. Politische Debatten finden bis heute nur an der Oberfläche statt, man spielt sie vor. Der Unterschied zwischen Ost und West ist größer, als es auf den ersten Blick scheint.

Zur Person
Pavel Kosatík ist 50 Jahre alt, stammt aus dem mährischen Boskovice, ist studierter Jurist. In den neunziger Jahren war er Redakteur, bei „Mladá fronta Dnes“, „Reflex“ und „Hospodářské noviny“. Dann fing Kosatík an, Science-Fiction-Romane zu schreiben, später Geschichtsbücher. Für letztere räumte er einige der renommiertesten Literaturpreise Tschechiens ab. Zuletzt veröffentlichte Kosatík „České snění“ („Tschechische Träume“) und „České okamžiky“ („Tschechische Momente“). Zurzeit arbeitet der dreifache Vater an Drehbüchern für die Fernsehreihe „České století“ („Das tschechische Jahrhundert“).