Stöbern war gestern

Stöbern war gestern

Vom Dissidententreffpunkt zum Jagdrevier – ein Spaziergang durch Prager Antiquariate

20. 3. 2013 - Text: Klaudia HanischText und Foto: Klaudia Hanisch

Tomáš Dušek ist voller Sorgen um die Zukunft. „Die meisten Antiquariate müssen schließen. In fünf Jahren bin auch ich pleite.“ Seinen Laden in der Korunní-Straße in Vinohrady betreibt er seit zehn Jahren. Man findet hier nicht nur Bücher, sondern auch Porzellan, Briefmarken, alte Mäntel, antike Broschen. 18.000 Kronen im Monat muss er allein für die Ladenmiete ausgeben. Es ist bereits fünf Uhr nachmittags und Dušek hat an diesem Tag drei Bücher, ein paar Briefmarken und Sammlerstücke verkauft. Die Kunden sind oft Stammkunden oder alte Bekannte. „Nur manchmal kommen neue Gesichter vorbei, die sich umschauen, vielleicht sogar etwas kaufen. Aber meistens sieht man sie nie wieder“, erzählt der 45-Jährige mit trauriger Stimme.

Dušek beschloss, ein Antiquariat zu eröffnen, nachdem ihn eine Reihe von persönlichen Schicksalsschlägen getroffen hatte. Seine Frau hatte ihn verlassen, aus der großen Möbelfirma, für die er viele Jahre arbeitete, war Dušek rausgeworfen worden. Es wollte nur noch seine Ruhe haben. Und er mochte Bücher.

Brutstätten der Opposition
Damals war die antiquarische Welt noch in Ordnung. In der Branche habe es kein Konkurrenzdenken gegeben. In Dušeks Laden kamen täglich um die vierzig Menschen. Sie sahen sich die Bücher an und blieben eine Weile. „Heute kommen nur fünf bis sechs Kunden und ich muss im Internet verkaufen, um zu überleben.“ Dušek verkauft bei www.aukro.cz, einem tschechischen Online-Handel. Die Kunden bestellen und holen die Ware ab, aber sie stöbern und blättern nicht mehr. Dušek gibt sich desillusioniert: „Bald werde ich wohl nur noch im Netz verkaufen. In meinem Alter wird mich keiner mehr einstellen.“

Der März war im Kommunismus traditionell der „Monat des Buches“. Damals arbeiteten viele Dissidenten in Antiquariaten. Den Geist der Freiheit suchte man in alten Büchern. Die scheinbaren Inseln der Ruhe waren Brutstätten oppositionellen Denkens. „Die Staatssicherheit überwachte uns ständig: Wer in den Laden ein- und ausging, worüber gesprochen wurde – es gab ein besonderes Misstrauen des kommunistischen Regimes gegenüber den Antiquaren“, erzählt Eva Kozáková, seit 40 Jahren im Geschäft.

Nach der Samtenen Revolution benannte man den „Monat des Buches“ in den „Monat des Lesers“ um, aber heute weiß davon kaum noch jemand. Vieles hat sich verändert in der Welt der Bibliophilen. Kozáková erinnert sich, dass kurz nach der Revolution viele neue Läden entstanden sind. „Es gab doppelt so viele Antiquariate wie vor 1989. Viele Betreiber haben sich verspekuliert.“ Kozáková entschied sich damals, das Geschäft, in dem sie arbeitete, zu übernehmen. Sie kaufte den ganzen Bestand des Ladens in der Myslíkova- Straße 10 nahe des Karlsplatzes auf und legte den Schwerpunkt auf Lehrbücher und Fachliteratur. Vor Schulanfang im August platzt der Laden regelrecht aus allen Nähten. Obwohl jedes Jahr neue Lehrbücher auf den Markt kommen, funktioniert die Geschäftsidee noch immer. Das rettet Kozáková vor der Online-Konkurrenz.

Die „Alten“ und die „Jungen“
Zwischen 2000 und 2005 setzte sich in Tschechien das Internet durch. Es kam zu Umbrüchen in einer Branche, die über 150 Jahre fast unverändert geblieben war und als stockkonservativ galt.
Unter Antiquaren spricht man von den „Alten“ und den „Jungen“. Die ersten seien altmodische Bibliophile. Sie lesen viel. Die neue Generation der Antiquare wuchs oft mit Tauschbörsen auf. Und sie haben die Bedeutung des Internets für das Geschäft mit alten Büchern erkannt. Es heißt, die Jungen hätten die Alten aus ihren Träumen gerissen. Indem sie einen unternehmerischen Geist in diese Branche brachten, hätten sie die Alten zum Handeln gezwungen. Das bedeutet, im Netz zu verkaufen und die Preise zu senken. Viele Menschen konnten nun Bücher für symbolische Preise erwerben. Die Sammlerszene veränderte sich. Früher fand man sie nur in Prag, heute kann man sich auch in das abgelegenste Dorf Bücher per Mausklick bestellen.

Jakub Cortés ist der Gewinner dieses Umbruchs. Er ist erst 34 Jahre alt und der größte Händler antiquarischer Bücher in Tschechien. Die Größe bemisst sich an der Zahl der angebotenen Titel und der Klickzahlen auf seinen Verkaufsportalen. Etwa 90 Prozent des Umsatzes macht er im Netz. Trotzdem betreibt er drei Antiquariate in Prag, in der Bělehradská-Straße, in Smíchov in der Neuen Synagoge und in Vinohrady. „Ich mag einfach Bücher“, sagt Cortés. Doch sein Geschäft in der Bělehradská ist kein klassisches Antiquariat, wo die Bücher in Regalen präsentiert werden. Es ist eher ein Warenmagazin. Unzählige Bananenkisten mit Büchern stapeln sich.
In der Szene nennt man Cortés das „Raubtier“. Er gilt als aggressiv, rücksichtslos und äußerst selbstbewusst. Gleichzeitig schätzt man ihn als soliden Geschäftsmann, der immer sein Wort hält. Man bewundert seinen Ehrgeiz und seine Energie.

Schon als Kind vertrieb er sich die Zeit auf Tauschbörsen. Er sammelte Comics. Die Sammlung wurde immer größer und ausgereifter. Mit 20 begann er sein Jurastudium und hörte auf zu lesen. Nach dem Studium arbeitete er in einer Kanzlei. „Aber das hat mir keinen Spaß gemacht: viel Verantwortung, viel Papierkram, große Konkurrenz und nur wenig Geld“. Das Adrenalin habe gefehlt, sagt Cortés. Im Bücherhandel sei das anders: „Ich bin ein Jäger. Ich jage nach Büchern.“ Er schaut auf sein Handy, das gerade klingelt. „Jeden Tag gibt es Überraschungen. Wenn ich irgendwo Bücher abhole und sehe, dass manchmal echte Kostbarkeiten dabei sind. Nicht immer sagt man das den Leuten.“

Billig und in Massen
Cortés wirbt in sozialen Netzwerken. Für Leute, die bei Facebook auf „Gefällt mir“ klicken, gibt es elf Prozent Rabatt. Cortés hat schon 10.000 Fans gesammelt, für Tschechien ist das enorm viel.
Unter Antiquaren kennt man sich, aber es herrsche ein harter Konkurrenzkampf. „Es gibt 80 Antiquariate in Prag. Die schwächsten müssen dichtmachen und jammern. Ich jammere nicht, ich arbeite. Viele wurden im Kommunismus sozialisiert und haben sich daran gewöhnt, dass man nicht arbeiten muss. Und dann gibt es noch die Pessimisten, die sich darüber beklagen, dass keiner mehr liest und das Internet das Geschäft kaputt mache.“

Massenhaft günstig kaufen und verkaufen, das ist Cortés simples Rezept. Der Markt ist satt. Menschen wollen eher Bücher verkaufen als erwerben. Sie ziehen aus größeren Wohnungen in kleinere um, weil sie sich diese nicht mehr leisten können. Und das erste, was sie loswerden wollen, sind Bücher. Die Leute finden Cortés über Zeitungsanzeigen oder das Internet. „Und wir kommen zu ihnen und kaufen alles ab“, sagt er. „Die besten Geschäfte macht man, wenn jemand stirbt.“ Cortés lacht. Er sieht sich gern als Raubtier.