Stadtansichten

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Die Krönung des schlechten Geschmacks

16. 4. 2014 - Text: Josef FüllenbachText: Josef Füllenbach

 

Seit ich 1970 das Glück hatte, in Prag ein Studienjahr zu verbringen, habe ich die Stadt jedes Jahr besucht. Heute habe ich hier meinen ständigen Wohnsitz. Eine gute Grundlage also, die Entwicklung der Stadt über mehr als 40 Jahre hin kontinuierlich zu beobachten. Kein Zweifel, es war insgesamt eine gute Zeit für die Metropole an der Moldau. Die politische Wende 1989 kam gerade noch rechtzeitig, um die wertvolle Substanz der historischen Stadtteile vor dem endgültigen Verfall zu bewahren. Was seither vor allem durch private Initiativen geleistet wurde, ist beeindruckend. Nur noch an wenigen Stellen stößt der Spaziergänger auf baufällige, aber erhaltenswerte Gebäude.

Doch gibt es auch Fehlentwicklungen. Viele davon haben ihre Ursache darin, dass seit 1989 Kapital und Kommerz allzu oft und allzu systematisch Oberhand gewonnen haben – über das öffentliche Interesse und speziell über die Anliegen des Denkmalschutzes. Auf dem Wenzelsplatz treten diese Probleme am deutlichsten zu Tage. Der Prachtboulevard hat einen rasanten Abstieg hinter sich: vom öffentlichen Raum, wo die Nation sich zu politischer Aktion versammelt, hin zu einem Tummelplatz von Glücksrittern, Prostituierten, Dealern, Tage- und Taschendieben.

Übelkeit bereitet mir aber vor allem, was der zügellose Touristenkommerz einem der prächtigsten Straßenzüge der mittelalterlichen Altstadt angetan hat. Der Krönungsweg der böhmischen Könige führt vom Pulverturm über die Zeltnergasse, am Altstädter und Kleinen Ring vorbei, dann durch die Karlsgasse zum Kreuzherrenplatz, über die Karlsbrücke und weiter durch die Brückengasse, über den Kleinseitner Ring und schließlich die Nerudagasse hinauf zur Prager Burg.

Es ist kaum zu beschreiben, was sich auf dieser in allen Stadtführern als „absolutes Muss“ und „historisches Kleinod“, ja als „Schaufenster des mittelalterlichen Prags“ angepriesenen Wegstrecke an Ramschläden angesiedelt hat. Allein die recht kurzen Gassen, die auf beiden Uferseiten an die Karlsbrücke anschließen, säumen insgesamt 20 Läden, die böhmisches Billigglas anbieten, gar 25 „Schmuckgeschäfte“ und ebenso viele Souvenirläden. Diese Ballung des immer gleichen, minderwertigen und grellen Angebots hat nicht nur die frühere Vielfalt zerstört. Sie hat auch viele Apotheken, Antiquariate oder Buchläden mit jahrhundertealter Tradition verdrängt.

Als ob die Verhunzung des Krönungswegs noch nicht genug wäre, breitet sich diese Hässlichkeit inzwischen metastasenartig in die Seitenstraßen aus, am schlimmsten in die Melantrichgasse und in den Durchgang hinein, der vom Kreuzherrenplatz zum Moldauufer Richtung Nationaltheater führt.

Je länger man diese Entwicklung verfolgt, umso mehr drängt sich der Eindruck auf, dass sich Prag auf der weiten Skala zwischen Rothenburg ob der Tauber und der Rüdesheimer Drosselgasse – dem Inbegriff des Touristenkitschs – immer mehr Letzterer zuneigt. Zugegeben, Rothenburg wäre für die geschäftige Millionenstadt Prag ein unerreichbares Extrem. Aber muss Prag seine einst ansehnlichsten Straßen und Plätze, seine geschichtsträchtige Magistrale vollends zu einer Ramsch- und Trödelmeile verkommen lassen? Muss es sich an den schlechtesten Geschmack prostituieren? Welche Klientel soll damit angezogen werden? Wie lange wollen die Stadtväter diese ungezügelte Profitgier noch gewähren lassen?