Stadt der Träume

Stadt der Träume

Vor 40 Jahren zogen die ersten Menschen in die Plattenbauten der Südstadt. Ein Besuch

12. 10. 2016 - Text: Katharina Wiegmann, Titelbild: Jan Lakota, CC BY-SA 2.0

Die Gelenke des überfüllten Ziehharmonika-Busses quietschen so grässlich wie die nervtötenden Trompeten in Věra Chytilovás „Panelstory“. Die Filmsatire aus den siebziger Jahren erzählt, wie die ersten Bewohner der Südstadt zwischen Baggern und Kränen durch die Häuserschluchten irren. An diesem Nachmittag ist draußen alles Grau in Grau. Der Himmel ebenso wie die end­losen Plattenbauten der Siedlung, die in diesen Tagen ihren 40. Geburtstag feiert. Es regnet, die Scheiben sind beschlagen. Genau so hat man sich das vorgestellt.

Jižní Město – oder „Jižák“, wie die Prager sagen – ist die größte Plattenbausiedlung der Repu­blik. 1976 zogen die ersten Bewohner in die Trabantenstadt, die nach den Plänen der Architekten Platz für bis zu 80.000 Menschen bieten sollte. Die Komplexe Háje, Opatov, Litochleby und Chodov lockten mit der Nähe zur Natur und einer guten Anbindung an die Autobahn D1.

„Von der Utopie zur Realität“ heißt eine Ausstellung in der Galerie „Chodovská tvrz“, einem kleinen, hübsch renovierten Fort in einer gepflegten Park­anlage, das zwischen den grauen Häuserblöcken und dem Brachland neben der Stadtautobahn fast surreal erscheint. Es wird freundlich gegrüßt. Die ältere Dame, die im oberen Stockwerk die Ausstellung über das Viertel beaufsichtigt, lebt selbst nicht in der Südstadt. Und ihre Begeisterung über die Arbeit der Stadtplaner hält sich in Grenzen. Aber: „Wenn es die Siedlungen nicht gäbe, wo sollten die ganzen Leute denn dann wohnen?“ Und die Architektur? Sie zuckt mit den Achseln. „Na ja, nichts Besonderes.“

Die Galerie Chodovská Tvrz zeigt eine Ausstellung über die Geschichte der Südstadt.

Pavel Karous würde ihr möglicherweise widersprechen – der Architekt und Bildhauer hat einen Stadtplan angefertigt, der die zahlreichen Statuen und Skulpturen im Viertel verzeichnet. Die Pläne sahen vor, zwei bis vier Prozent der Baukosten für Kunst im öffentlichen Raum auszugeben. So entstanden mehr als 60 Objekte, von denen die meisten bis heute erhalten sind. Seit 2010 gibt es auf der Grundlage von Karous’ Karte Führungen durch die Südstadt.

Bemerkenswert ist auch das Orientierungssystem der Siedlungen, das der Grafikdesigner Jiří Rathouský entwarf. Die Farben der Fassaden und Symbole an den Häuserblöcken standen für Sonne, Wasser, Erde Luft, Flora und Fauna. Die Straßen wurden nach Persönlichkeiten benannt, die einen bedeutenden Beitrag zur Wissenschaft im jeweiligen Bereich geliefert hatten, Tafeln an den Häuserwänden klärten die Bewohner darüber auf. Während die Straßen­namen geblieben sind, haben sich die Fassaden im Laufe der Zeit verändert; Maßnahmen zur Energie­dämmung führten dazu, dass mancherorts die Symbole und die ursprünglichen Farben verschwanden.

Über den Dächern der Stadt
Vielleicht liegt es auch am verworfenen Farbkonzept, dass man sich am derzeitigen Erscheinungsbild des markanten Hotel Kupa an der U-Bahn-Station Háje stört. Auf älteren Bildern sieht der 23-stöckige Bau aus zwei Teilen mit Verbindungssteg massiv, kühn und irgendwie größenwahnsinnig aus. Heute wächst neben ihm ein Baugerüst in die Höhe. Zwischen den Fenstern wurden bereits Platten aufgesetzt, die eine gefällige Farbpalette von Hellgelb bis Orange abdecken und die Architektur auf eine traurige Art und Weise verniedlichen.

Polizistenunterkunft mit Aussicht: das Hotel Kupa

Das Gebäude wird heute vom Innenministerium verwaltet, das Polizisten darin unterbringt. Vielleicht mustert die Rezeptionistin Gäste deshalb mit strengem Blick, während sie das Plexiglasfenster nach oben schiebt, um die Besucher­ausweise auszuhändigen. „Bitte geben Sie die wieder ab, wenn Sie das Gebäude verlassen. Gestern habe ich einige nicht zurückbekommen. Ich glaube, die Leute sind vielleicht immer noch im Haus.“ Schnell nach oben ins Hotelrestaurant, bloß nicht in den dunklen Gängen verirren. Der Blick aus dem 22. Stockwerk ist atemberaubend. Sogar die Burg ist in der Ferne zu sehen, aber auch die vielen Lichter in den Fenstern der umgebenden Plattenbauten.

Valerie tanzt
Man muss an Sylva Francová denken. Die Fotografin hat einen Großteil ihres Lebens in der Südstadt verbracht. Bilder von ihr sind auch in der Ausstellung in der Galerie „Chodovská tvrz“ zu sehen. Francová war schon immer fasziniert davon, wie die bei Tag undurchdringlich erscheinenden Gebäude nachts durch die erleuchteten Fenster auf einmal den Blick auf das freigeben, was im Inneren passiert. „Irgendwann habe ich angefangen, mich für das Leben der Bewohner in ihren vereinheitlichten Räumen zu interessieren“, erzählt sie. Für ihre Fotoserie „In Panel“ hat sie die Wohnzimmer ihrer Nachbarn abgebildet. „Ich versuche, die Zimmer als individuell gestaltete Hülle für menschliche Schicksale zu zeigen. Die Bewohner kennen sich vielleicht gar nicht, obwohl sie nur durch eine dünne Wand von einander getrennt sind.“

Fotografin Sylva Francová lebte 35 Jahre in der Südstadt. Für ihre Reihe

Im Restaurant geht es erstaunlich persönlich zu, es scheinen viele Stammgäste da zu sein. Das Bier ist billig. Am Nebentisch wird Schnaps getrunken. Eine Atmosphäre wie in einer Dorfkneipe – und das in einem Wolkenkratzer.

Direkt neben der Polizisten­unterkunft tanzt Valerie oben ohne im Schaufenster des Cabaret Lotos. Ob Valerie ihr echter Name ist, oder ob er sich nur gut in den Satz „Valerie tančí“ (Valerie tanzt) einfügt, der sich über ihr in roten Buchstaben durch eine schmale Anzeigetafel zieht, bleibt unklar. Auf der Tafel erfährt man auch, dass es einen beheizten Pool in dem Etablissement gibt und dass „alles kann, nichts muss“. Die Preise sind ganz altmodisch mit Kreide auf eine Tafel geschrieben: 1.400 Kronen für eine halbe Stunde, 2.290 für eine ganze. Arbeit, Leben, Freizeit – all das sollte sich nach den Plänen aus den sechziger Jahren in unmittelbarer Nähe befinden. Aber ob das so gemeint war?

Vom Hotel Kupa bis zum Zentral­park (centrální park) sind es nur ein paar Schritte. Ungefähr einen Kilometer schlägt der Grünstreifen eine Schneise durch die Hochhäuser, bis zur U-Bahn-Station Opatov. Die Allee säumen moderne Parkbänke und künstlich angelegte Hügel, die zum Picknick einladen.
Das 2007 eröffnete Gemeinde­zentrum „Mutter Teresa“ der katholischen Kirche sieht aus, als hätten die Architekten den kommunistischen Kollegen postum zeigen wollen, wie moderne Architektur wirklich geht. Wie ein weißes Raumschiff thront das Gotteshaus am Eingang des Parks. Von Grünflächen und Weite war in der Ausstellung oft die Rede gewesen, auch Fotografin Francová hatte davon gesprochen. Im Park ist das alles zu erahnen. Von manchen Hügeln aus sieht man die Bäume der umliegenden Wälder. Es ist still.

Der Zentralpark verbindet die U-Bahn-Stationen Háje und Opatov. Hier spürt man die Weite, von der einige Bewohner der Siedlung schwärmen.

Bevor es zurück ins Zentrum geht, schnell noch auf einen Absacker in die Südstadt-Brauerei. Laute, bayerische Gemütlichkeit, inklusive Schweißgeruch dank Rauchverbot. Sogar Käse­spätzle stehen auf der Karte, ebenso „Weiss“- und „Festbier“. Alles schmeckt köstlich. Am Neben­tisch wird Englisch gesprochen. Die Südstadt verändert sich, und vor allem ist sie kein Ghetto. Hier wohnen Studenten, Rentner, junge Familien – ein Querschnitt der tschechischen Gesellschaft.

Was bleibt nach zwei Tagen zwischen Háje, Chodov und Opatov? Hat man immer noch quietschende Busgelenke und die schrägen Trompeten aus Chytilovás tragisch-komischer Plattenbausatire im Ohr? Irgendwo zwischen den Stock­werken im Hotel Kupa haben sich ein paar einfache Rap-Verse im Ohr festgesetzt, die in der Ausstellung erklungen waren. Mitte der achtziger Jahre gelang es einem jungen Mann namens Alexandr Hajdovský Potapovič dank der hoch gebauten Platten, westliche Radiosender zu empfangen. Inspiriert von Hip-Hop-Pionier Grandmaster Flash und den Furious Five nahm er in einem Wohnzimmer in der Südstadt das erste tschechische Rap-Album auf. Statt „New York, New York, big city of dreams“ wurde aus der Südstadt die Stadt der Träume. Bis heute lebt hinter jedem der vielen tausend Fenster ein anderer weiter.