Schlager und Sonaten

Schlager und Sonaten

Jaroslav Ježek schuf ernste Konzertmusik und trat mit den Komikern Voskovec und Werich auf. Sein Jugendzimmer ist heute Prags kleinstes Museum

23. 3. 2016 - Text: Pavel GrošpicText: Pavel Grošpic; Foto: ČTK, Pavel Grošpic

Jaroslav Ježek zählt nicht zu den tschechischen Komponisten, deren Namen heute auch im Ausland jeder Musikliebhaber kennt. Dafür ist er einer von wenigen, die gleichzeitig Schlager und Sonaten, eingängige Unterhaltungs- und ernste Konzertmusik schrieben. Berühmt wurde er in der Tschechoslowakei der Zwischenkriegszeit vor allem durch seine Lieder und die Theatermusik, die er für das Befreite Theater (Osvobozené divadlo) der Komiker Jiří Voskovec und Jan Werich schrieb. Weniger bekannt ist er als Komponist einer abstrakten Kammer- und Orchestermusik. In diesem Jahr hätte er seinen 110. Geburtstag gefeiert.

Jaroslav Ježek wurde am 25. September 1906 als erstes Kind von Adolf und Františka Ježek in Prag geboren. Schon bald bemerkte die Mutter einen schwarzen Punkt in einem Auge. Die Ärzte diagnostizierten Grünen Star. Eine Operation misslang jedoch und die Krankheit griff auch das andere Auge an. Außerdem erkrankte der Junge an Scharlach und wurde schwerhörig.

Sonntags ging die Familie oft in den Prager Rieger-Park, wo regelmäßig eine Kapelle spielte. Ježek konnte sich nicht von den Musikern losreißen, nicht einmal in den Pausen. Aus ihm werde später auch ein Musiker werden, prophezeite ihm damals schon der Kapellmeister. Er wolle Komponist werden, erklärte Jaroslav seinem Vater entschlossen. Der hatte andere Pläne für den Sohn. Er wollte Geld sparen, damit er später eine Tabaktrafik eröffnen könne. Doch der Sohn wollte davon nichts hören.

Als Ježek in die zweiten Klasse der Grundschule ging, stellte sich heraus, dass seine Seh­behinderung zu schwer­wiegend war, als dass er weiterhin gemeinsam mit seinen gesunden Mitschülern unterrichtet werden könnte. Sein Vater schickten ihn daraufhin – trotz heftiger Proteste und Tränen – in eine Blindenanstalt. Zu dieser Zeit hatte gerade der Erste Weltkrieg begonnen, der Vater musste an die serbische Front.

Sechs Jahre und sechs Monate verbrachte Ježek in der Blindenanstalt auf dem Hradschin. Der aufgeweckte Junge, der quirlige Straßen über alles liebte, saß einsam im kalten Internat und lernte die Blindenschrift. Streng war es ihm zwar verboten, die Reste seiner Sehkraft zu benutzen. Dennoch las er heimlich Bücher und träumte davon, wieder ein normales Leben unter Sehenden zu führen.

Seine Mutter und die jüngere Schwester Jarmila durften ihn einmal im Monat besuchen. Die geräucherte Wurst, die sie ihm mitbrachten, tauschte er gegen Noten. Er spielte den Nonnen in der Blindenanstalt Streiche und fuhr im Sommer gerne aufs Land zur Familie seines Klassen­kameraden Josef Škoda. In deren Fleischerei bekam er seinen eigenen Kittel, mit dem er sich beim Vieheinkauf als Lehrling ausgab. Als der Vater aus dem Krieg zurückkam, sollte es noch zwei Jahre dauern, bis er Geld für ein gebrauchtes Klavier sparte und Ježek wieder nach Hause zog.

In der Kaprová-Straße ist alles so geblieben, wie Ježek es verlassen hat.

Begeisterte Jury
In der Musikschule Dvořákeum bereitete sich Ježek auf die Aufnahmeprüfung am Prager Konservatorium vor, für die er sich 1924 anmeldete. Für Staunen sorgte bei der Jury schon die Auswahl der Werke, die er am Klavier präsentierte: eine Sonatine von Maurice Ravel und der „Boston“ aus der erst zwei Jahre vorher entstandenen „Suite 1922“ von Paul Hindemith, die in Prag damals noch kaum jemandem bekannt war. Dass er so schwierige Werke beherrschte, verdankte er seinem außerordentlichen Gedächtnis. Nur mit dem Auge ganz nah am Blatt konnte er die Noten lesen und den Inhalt der Komposition entschlüsseln.

Die Sehbehinderung be­un­ruhigte die Mitglieder der Jury. Sie wollten von ihm wissen, ob er auch komponiere. Er verneinte. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Ježek vom Komponieren nur geträumt, aber nicht gewagt, es zu versuchen. Die Jury bat ihn zu improvisieren – und war vom Ergebnis so begeistert, dass sie noch zwei weitere Professoren, Karel Boleslav Jirák und Alois Hába, hinzuholte. Auch die konnte Ježek überzeugen. Jirák wollte ihn in seine Kompositions­klasse aufnehmen, Hába reservierte ihm einen Platz in seinem Kurs zur Viertelton-Musik. Die Aufnahme­prüfung für Klavier wiederholte Ježek ein Jahr später und wurde in die Klasse des Professoren Albín Šíma aufgenommen.

Ježeks Familie war inzwischen vom Stadtteil Žižkov ins Prager Zentrum gezogen. Der Vater konnte seit seiner Rückkehr aus dem Krieg nicht mehr richtig arbeiten, saß auf dem Bett und beobachtete die Schneiderinnen bei der Arbeit, während sein Sohn im anderen Zimmer Tonleitern und Etüden übte.

Das damalige Prager Konservatorium war im alten Emmaus­kloster untergebracht. Dort mangelte es an Räumen, durch die Wände drang Feuchtigkeit aus dem Keller. Der Garten­pavillon, wo Viertelton-Musik und Blasinstrumente unterrichtet wurden, war mit einem gläsernen Dach überdeckt, sodass die Professoren und Studenten im Sommer unter der Hitze litten und im Winter froren. Dafür versammelten sich dort in den zwanziger Jahren bedeutende Persönlichkeiten der böhmischen musikalischen Welt wie Jan Bohuslav Foerster, Vítězslav Novák, Josef Suk oder Václav Talich.

Ježeks Kompositionsanfänge waren von der Poesie des tschechischen Dichters Vítězslav Nezval geprägt. Der Dichter, einer der wichtigsten Vertreter des Poetismus, kam mit seinen ersten Gedichtbänden vor allem bei der jungen Generation gut an. Eines Nachmittags erklang im Konservatorium eine Mädchenstimme zu Klavierbegleitung: „Er sang und sang von seiner Trauer, von der verlorenen Jugend und gleichzeitig rann ihm noch über das Kinn die Milchstraße herab.“ Ježek hatte ein Gedicht von Nezval vertont, das aus Weltschmerz in wenigen Worten Unsinn machte. Mit weiteren Liedern, die auf Nezvals Gedichtband „Pantomima“ beruhten, verzauberte Ježek den Dichter und andere Zuhörer. Dank Nezval lernte er auch den Künstlerkreis „Devětsil“ kennen und durch Emil František Burian die alternative Theaterszene des Befreiten Theaters.

Ježek war ein phänomenaler Improvisator. Im Theater amüsierte er das Publikum mit Variationen über das tschechische Volkslied „Nanynka ging Kohl pflücken“ im Stil weltberühmter Komponisten wie Mozart, Liszt, Wagner oder Smetana. Er konnte so improvisieren, dass das Publikum jubelte. Ježek ließ sich aber auch vom Jazz inspirieren, über den er 1934 in der Rundfunk­sendung „Radiojournal“ sagte: „Jazz ist der Tanzausdruck unseres Jahrhunderts.“

Seinen Abschluss am Konservatorium machte Ježek 1927 mit einem auf modernen Rhythmen basierenden Konzert für Klavier und Orchester. Auf einen verspielten Foxtrott folgt ein sinnlicher Tango, der im dritten Satz unerwartet in einen verrückten Charleston voller Dissonanzen übergeht.

Ein zweiter Beethoven
Im Befreiten Theater hatten sich unterdessen die Jurastudenten Jiří Voskovec und Jan Werich als V + W einen Namen gemacht. Im Jahr 1927 begeisterten sie das Publikum mit ihrer „Vest pocket revue“ („Westentaschen-Revue“). Als der Erfolg nachließ und das Theater 1928 in eine Krise geriet, versuchten die beiden Komiker, Ježek für ihre Bühne zu engagieren. Ježek wusste, dass er seine Karriere als seriöser Komponist riskieren würde, wenn er sich auf die populäre Musik einließ. Er wagte es trotzdem und schrieb seine ersten drei Schlager „Tři strážníci“ („Die drei Wachmänner“), „Zasu“ und „Skafandr fox“. Ježeks Lehrer Josef Suk hatte nichts gegen das Theaterengagement seines Schülers einzuwenden. Nach einem Studentenkonzert am Konservatorium sagte er ihm aber, er hoffe, dass Ježek ein zweiter Beethoven werde.

Besucher können das Instrument des Komponisten sehen.

Durch das Engagement am Befreiten Theater war Ježek in den unruhigen dreißiger Jahren nah dran an den sozialen und politischen Kämpfen, die sich vor dem Zweiten Weltkrieg abspielten. Im Jahr 1932, als die Wirtschaftskrise die Tschecho­slowakei bereits erfasst hatte, schossen bei Freiwaldau (Jeseník) staatliche Sicherheitskräfte auf streikende Arbeiter. Die Öffentlichkeit rea­gierte empört, es wurde eine Petition gegen den schießenden Staat unterzeichnet. Die Komiker Voskovec und Werich schrieben das Theaterstück „Caesar“ als Satire auf eine Demokratie, die nicht funktionierte. Seitdem kommentierte das Befreite Theater mit Andeutungen oder ganz direkt die Missstände in Europa und machte politische Satire.
Nach dem Münchner Abkommen war das nicht mehr möglich. Die Komiker Voskovec und Werich verloren ihre Konzession und entschieden sich schließlich, ins Exil zu gehen. Bei ihrer Flucht aus Europa half ihnen Lotte Gosslar, die in der Tschechoslowakei Zuflucht vor den Nationalsozialisten gesucht hatte und Tänzerin im Ensemble des Theaters gewesen war. Sie organisierte für die beiden Komiker fiktive Verträge in den USA; daraufhin erhielten sie die Einreisegenehmigung.

Noch im Januar 1939 reisten Voskovec, Werich und auch Ježek mit dem Schiff nach New York. Die ersten Auftritte vor den zahlreichen Immigranten waren erfolgreich. Doch bald wurde es schwierig, sich über Wasser zu halten. Das Umfeld war ein anderes, das amerikanische Publikum verstand die Witze aus der Tschechoslowakei nicht. Darüber hinaus war politische Satire in den USA zu dieser Zeit nicht bekannt. Im Gegensatz zum politisierten Europa war das Interesse an Politik eher gering. Anfang des Jahres 1940 veranstalteten die drei einen Abend in Chicago. Ježek spielte Klavier und Exilpräsident Edvard Beneš, der sich gerade in den USA aufhielt, versprach seine Teilnahme. Das führte aber dazu, dass zahlreiche Amerikaner die Veranstaltung boykottierten – sie warfen Beneš vor, dass er früher als Außen­minister die Sowjetunion anerkannt habe.

Rasendes Rondo
Für Ježek, Voskovec und Werich war die Zukunft ungewiss. Sie lebten alle drei zuerst in einer provisorischen Unterkunft am Stadtrand von New York, später in einer Hütte auf dem Land in Pennsylvania. Ježek war verzweifelt, vermisste seine Mutter und Schwester, sein Zimmer mit Klavier, seine Freunde, die moderne Kultur und moderne Musik. Voskovec und Werich kauften ihm für ein paar Dollar ein altes und vom Regen zerstörtes Piano. Eines Abends wurde Ježek in New York hysterisch, er warf Voskovec und Werich vor, ihn entführt zu haben, lief aus der Bar auf die Straße hinaus und taumelte zwischen den vorbeifahrenden Autos hindurch.

Im Jahr 1940 zogen Voskovec und Werich von New York nach Cleveland, wo sie sich einer dortigen Theatergruppe anschlossen. Ježek blieb in New York, wo er Freunde innerhalb der tschecho­slowakischen Gemeinde fand. Er gab Klavierunterricht, gründete im „Arbeiter­kulturhaus“ einen Männer- und einen Frauenchor und vollendete seine monumentale Klaviersonate. Das Hauptthema des ersten Satzes ist eine getragene, gesangartige Melodie. Der zweite paraphrasiert eine Polka Smetanas, darauf folgt ein tragisches Lento. Der dritte Satz ist ein rasendes Rondo.

Ende des Jahres 1941 ging es Ježek plötzlich schlecht. An Heiligabend musste er ins Kranken­haus gebracht werden, am nächsten Tag war er vollständig blind. Er lag unter einem Sauerstoffzelt in einem Zimmer hoch über New York. Vor der Tür versammelte sich ständig Bekannte und Freunde. Drinnen bewegte seine Hand sich im Rhythmus, vielleicht dirigierte er noch einmal sein Orchester im Befreiten Theater. Am 1. Januar 1942 starb er.

Als die Mutter Františka erfuhr, dass ihr Sohn nicht mehr zurückkommen werde, ließ sie sein Zimmer unverändert und verschlossen. Heute betreibt das Tschechische Musikmuseum darin das kleinste Museum Prags. Alles ist so erhalten geblieben, wie es wahrscheinlich am Tag von Ježeks Abreise ins Exil war; die Zimmerdecke ist dunkelblau gestrichen, zwischen den Möbeln und dem Kachelofen steht der Steinway-Flügel.

Památník Jaroslava Ježka (Kaprova 10, Prag 1), geöffnet dienstags 13 bis 18 Uhr, Eintritt: 20 CZK (ermäßigt 10 CZK)

Befreites Theater
Das Osvobozené divadlo (wörtlich Befreites Theater) war eine avantgardistische Prager Theaterbühne, die 1926 vom Dichterverein Devětsil gegründet wurde. Der Name nimmt Bezug auf das Entfesselte Theater der russischen Avantgarde. Dadaismus, Futurismus und später auch der Poetismus beeinflussten das Befreite Theater, in dem unter anderem Werke von Guillaume Apollinaire, André Breton, Filippo Tommaso Marinetti und Vítězslav Nezval aufgeführt wurden. Heute erinnert in Prag das Theater am Geländer (Divadlo Na zábradli) regelmäßig mit dem Stück „Korespondence V+W“ an das Befreite Theater und die Schauspieler Jiří Voskovec und Jan Werich.   (PZ)