Prag von oben

Prag von oben

Die schönsten Aussichten auf die Stadt – Teil 1: Turm der Nikolauskirche

8. 6. 2016 - Text: Josef FüllenbachText und Fotos: Josef Füllenbach

 

Die Nikolauskirche ragt mit ihrem Turm aus der Vielzahl der architektonischen Denkmäler auf der Kleinseite heraus. Nicht nur, weil drei Generationen der berühmten Baumeisterfamilie Dientzenhofer – Christoph, dessen Sohn Kilian Ignaz und dessen Schwiegersohn Anselmo Lurago – an dem barocken Bau beteiligt waren, sondern auch wegen einer weniger bekannten Besonderheit: Turm und Gotteshaus gehören unterschiedlichen Eigentümern – die Nikolaus­kirche dem Erzbistum Prag, der Turm jedoch von Anfang an der Stadt. Das ist heute noch daran zu erkennen, dass er über einen eigenen Eingang mit dem Kleinseitner Stadtwappen darüber und über eine eigene Hausnummer (556/III) verfügt.
Was zu Beginn der neunziger Jahre vielen ein Rätsel aufgab: Überall in Prag wuchsen die Gerüste empor und die Maurer, Stuckateure und Maler gingen zu Werke; auch der Turm an der Niko­lauskirche wurde eingerüstet, der bröckelnde Putz ausgebessert und der Anstrich erneuert. Doch gleichzeitig wurde die Kirche mit der stolzen Kuppel, deren Äußeres nicht weniger heruntergekommen war, immer unansehnlicher. Kirche und Turm standen einige Jahre nebeneinander wie Aschenputtel und Prinz, bis endlich auch die Erzdiözese das notwendige Geld aufbrachte, um ihren Teil des Gesamtkunstwerks aufwendig zu renovieren und ihn neben dem prächtigen Turm nicht alt aussehen zu lassen. Bei genauerer Betrachtung ist heute zu erkennen, dass die von Feinstaub gesättigte Prager Luft der Fassade des Turms etwas länger zugesetzt hat als der des mächtigen Kuppelbaus.

Die merkwürdige Eigentumsregelung hat ihre Vorgeschichte. Auf dem heutigen Gelände der Nikolauskirche stand seit dem 13. Jahrhundert eine weitaus bescheidenere gotische Pfarrkirche, gleichfalls dem heiligen Nikolaus geweiht. Neben der Pfarrkirche befand sich ein Wachturm, der der Kleinseitner Gemeinde gehörte und in dem der Turmwächter wohnte. Nach der Schlacht am Weißen Berg im November 1620 betrauten die Habsburger vor allem den Jesuitenorden mit der Rekatholisierung der böhmischen Länder.

Turm und Kuppelbau der Nikolauskirche

Fahrlässige Klempner
Albrecht von Wallenstein sorgte dafür, dass die Nikolauskirche samt dazugehörigem Gelände 1625 den Jesuiten übertragen wurde. Knapp 50 Jahre später erlaubte Kaiser Leopold I. dem Orden, die alte Nikolauskirche abzureißen und an der Stelle eine neue Kirche zu errichten, und zwar größer, imposanter und im damals modernen Barockstil. Der Grundstein wurde noch im selben Jahr in Anwesenheit des Kaisers gelegt, doch der Bau begann erst Anfang des 18. Jahrhunderts und zog sich mit Unterbrechungen über dessen ganze erste Hälfte hin.

Einer der Streitpunkte war gerade der Turm. Für das neue Gotteshaus mit anschließenden Gebäuden für das Jesuitenwohnheim musste auch der städtische Wachturm weichen. Als die Jesuiten ihn 1737 abrissen, verpflichteten sie sich gegenüber der Stadt, einen neuen Turm zu errichten. Gleichwohl ging das Tauziehen zwischen beiden Seiten noch einige Jahre weiter. Aber als die neue Nikolauskirche 1752 fertig wurde, war auch klar, dass der Turm – nach Baustil, Platzierung, Höhe und Pracht offenbar ein untrennbarer Teil der Kirche – der Kleinseitner Gemeinde gehören wird. Und so blieb es bis heute. Betrachtet man auf historischen Zeichnungen den alten Wachturm, so hatte die Gemeinde ein hervorragendes Geschäft gemacht, das mit dem 1755 vollendeten Dach seinen krönenden Abschluss in 74 Meter Höhe fand – ebenso hoch wie die benachbarte Kuppel.

215 Stufen, zunächst steinerne, dann aus Holz, führen zu einer schmalen Galerie auf 65 Metern Höhe. Auf dem Weg dorthin kann man etwa auf halber Strecke verschnaufen und die ehemalige Wohnung des Turmwächters besichtigen. Im Jahr 1891 hat dort der letzte Wächter seinen Dienst beendet. Seine Hauptaufgabe war es, im Brandfall Sturm zu läuten und in Richtung der Brandstätte tagsüber eine Fahne hinauszuhängen, nachts eine Laterne.

Im Herbst 1925 entging der Turm nur durch das beherzte Eingreifen der Feuerwehr einem möglicherweise vernichtenden Brandschaden. Klempner, die mit Reparaturarbeiten an dem mit Kupferblech gedeckten Dach beauftragt waren, hatten ihr kleines Schmiedeöfchen nicht mit einer darunter gelegten Blechplatte gesichert, wie es die Vorschrift verlangte. Die Löscharbeiten gestalteten sich schwierig und für die Feuerwehr gefährlich. Einige Balken des Dachgestühls waren verkohlt, die Zeiger der Turmuhr geschmolzen, ebenso Teile der Kupferblechverkleidung der Dachfenster. Die Strafe für die grobe Fahrlässigkeit lautete auf fünf Tage Gefängnis, die zur Bewährung ausgesetzt wurden.

Ehemalige Wohnung des Turmwächters

Späher in der Opa-Bude
Wer sich nach dem Rundgang am herrlichen Anblick sattgesehen hat und wieder genug Kraft in den Beinen verspürt, sollte sich über weitere 88 Stufen in das oberste Turmzimmer begeben, das noch über der Turmuhr liegt. Der Blick durch die engen Fenster ist zwar weniger frei und grandios als der von der Galerie, doch kann man hier nachempfinden, unter welchen Bedingungen die kommunistische Geheimpolizei jahrzehntelang das Kommen und Gehen auf den Grundstücken der umliegenden westlichen Botschaften (etwa der USA, Japans, der Bundesrepublik und Großbritanniens) rund um die Uhr beobachtete.

Das kleine Zimmer nannte man im Volksmund „Opa-Bude“ („dědkárna“), weil der Dienst dort überwiegend von Agenten im Ruhestand versehen wurde. Die Späher meldeten die Informationen an Kollegen, die in der Nähe in ihren Autos warteten und notfalls losbrausten. Welche Aufregung muss dort oben im Herbst 1989 geherrscht haben, als der Strom der DDR-Bürger, die in der deutschen Botschaft Zuflucht suchten, kein Ende nehmen wollte?

Dem Betrachter auf der Galerie bietet sich Prag am schönsten ab den frühen Nachmittagsstunden dar, wenn die Sonne aus südwestlicher bis westlicher Richtung die Altstadt und die Kleinseitner Dächer bescheint. Von der mächtigen Kuppel der Nikolauskirche ist das berühmte Prager Burgpanorama ohnehin größtenteils verdeckt. Einen unverstellten Blick auf die Burg und auch auf die Nikolauskirche kann man von der Galerie des Kleinseitner Brückenturms genießen. Darüber in der nächsten Folge mehr.

Věž chrámu sv. Mikuláše. November bis Februar 10–18 Uhr, März 10–20 Uhr, April bis September 10–22 Uhr, Oktober 10–20 Uhr; Eintritt: 90 CZK, ermäßigt 65 CZK, Familien 300 CZK