„Alkohol ist gefährlicher als Terror“

Risikoforscher Ortwin Renn über Flüchtlingspolitik – und Probleme des Alltags 

25. 8. 2016 - Text: Klaus HanischInterview: Klaus Hanisch; Fotos: ČTK/Roman Vondrouš, Acatech

Tschechien soll nach einem EU-Beschluss etwa 2.700 Flüchtlinge aufnehmen, angekommen sind bisher allerdings nur vier. Nicht nur Präsident Miloš Zeman fürchtet, dass mit der Aufnahme der „Nährboden für barbarische Angriffe“ in Tschechien bereitet werde. Dem widerspricht der deutsche Risikoforscher Ortwin Renn. In Ländern mit vielen Flüchtlingen sei „das Risiko des Terroranschlages geringer als in Ländern mit restriktiver Flüchtlingspolitik“, so der Wissen­schaftler. Renn gehörte dem „Science and Technology Advisory Council“ an und wurde 2012 zum Präsidenten der Internationalen Gesellschaft für Risikoanalyse gewählt. Seit Februar leitet er das renommierte IASS-Institut in Potsdam.

Leben Tschechen risikoärmer, weil das Land keine Flüchtlinge aufnimmt?
Statistisch gesehen nicht. Schwe­re Straftaten werden etwa in Deutschland oder Schweden nicht häufiger von Flüchtlingen verübt als von den dort lebenden Einheimischen. Es gibt Ausnahmen: zum einen Delikte gegen das Ausländerrecht – das ist auch logisch – und Einbruchsdiebstähle, wo vor allem Banden aus dem Ausland – aber höchst selten Flüchtlinge – in Deutschland tätig sind. Im Gegensatz zur landläufigen Meinung haben in Deutschland die Vergewaltigungen nicht zugenommen und der Anteil der Flüchtlinge daran ist marginal.

Führende tschechische Politiker behaupten, dass mit einer Aufnahme von Flüchtlingen die Terrorgefahr im Land steige. Stützen die Attentate von Würzburg und Ansbach nicht doch diese Annahme?
Nein. In den Ländern, in denen viele Flüchtlinge aufgenommen wurden, wie Deutschland oder Schweden, ist das Risiko des Terroranschlages geringer als in Ländern mit restriktiver Flüchtlingspolitik. Von 2000 bis 2015 sind in Deutschland 13 Menschen dem Terror zum Opfer gefallen, davon waren zehn durch Rechtsextremisten verursacht (dabei handelte es sich um die Morde des sogenannten NSU, Anm. d. Red.). Selbst 2016 sind nur ganz wenige Menschen in Deutschland dem Terror zum Opfer gefallen, wenn man die Amokläufe in München ausschließt, wo ein terroristischer Hintergrund unwahrscheinlich ist.

Tschechen trinken weltweit am meisten Bier. Der Präsident greift gerne auch zum Becherovka. Ist ihre Gesundheit dadurch mehr gefährdet als durch einen möglichen Terroranschlag?
Terror und Bier sind natürlich nicht vergleichbar, aber Alkohol gehört zu den häufigsten Ursachen für frühzeitige Gesundheitsschäden und ein verkürztes Leben. Alkoholkonsum ist die primäre Todes­ursache von 2,48 Personen pro 100.000 in Tschechien. Wenn wir alle Gewalt­anwendungen im Land von Kriminalität bis Terror zusammenfassen, liegen wir bei 0,09 Personen pro 100.000. An Alkohol sterben also 250 Mal mehr Personen.

Tschechien hat eine sehr liberale Drogenpolitik, junge Tschechen verfügen EU-weit über die meisten Erfahrungen mit Cannabis, in den Lokalen darf nach wie vor geraucht werden. Warum haben Menschen Angst vor Terror, greifen aber zu Drogen und Zigaretten – obwohl sie dadurch zum Beispiel an Krebs erkranken könnten?                                                
Erstens: Freiwillig eingegangene Risiken werden als weniger schwerwiegend eingestuft als aufgezwungene. Von daher machen sich für Rauchverbote vor allem Nichtraucher stark, die dem Passivrauchen nicht ausgesetzt sein wollen. Zweitens: Menschen, die an Gewohnheiten hängen, sind davon überzeugt, dass sie die berühmte Ausnahme von der Regel sind. Meist kennen sie jemanden, der trotz Rauchen 100 geworden ist. Damit identifizieren sie sich. Und drittens: Rauchen hat oft symbolische Bedeutung als eine Art Protest gegen staatliche Bevormundung – eine Art Trotzreaktion.

Ortwin Renn leitet unter anderem das Zentrum für Interdisziplinäre Risiko- und Innovationsforschung an der Universität Stuttgart.

Sie erklären, dass Menschen eher an akuten Pilzvergiftungen sterben als durch Terrorismus. Für Tschechen ein interessanter Hinweis, weil viele von ihnen begeisterte Pilzsammler sind. Warum fürchten sich so viele Menschen vor dem Falschen?
Der Hauptgrund ist, dass viele der modernen Gefahren nicht mehr sinnlich erlebt, sondern durch Kommunikation indirekt vermittelt werden. Das bedeutet: Die Menschen müssen anderen Menschen Glauben schenken. Sie können es nicht mehr selbst nachprüfen. Dadurch können geschickte Kommunikatoren Ängste schüren, die in Wirklichkeit mit geringen Gefahren für alle verbunden sind. Oder auch umgekehrt, wie etwa beim Klimawandel. Gefahren, die man aus dem Alltag kennt, werden dagegen meist realistischer eingestuft, etwa die Gefahr, giftige Pilze zu sammeln.

Wovor sollten wir uns überhaupt fürchten?
Individuell sind es die vier Volkskiller: Rauchen, Alkohol, unausgewogene Ernährung und Bewegungsmangel. Darauf sind rund 60 Prozent aller vorzeitigen Todesfälle zurückzuführen. Dann kommen die sogenannten systemischen Risiken, die globaler Natur sind, wie Klimawandel, Süßwasserverknappung, Cyberrisiken, Kapitalmarkt­zusammenbruch oder wachsende soziale Ungleichheit.

In Deutschland fürchten sich drei von vier Bürgern vor dem Terrorismus – die Angst davor ist noch größer als vor Krankheit oder Naturkatastrophen. Steigern allein die Anschläge diese Terrorangst so enorm?
Unsere Wahrnehmung geht immer von Einzelereignissen aus. Wenn diese den öffentlichen Diskurs bestimmen, wie gerade in Deutschland, nehmen sie auch den ersten Platz in unserer Wahrnehmung ein. Das ist unabhängig von der statistischen Höhe des Risikos.

In den siebziger bis neunziger Jahren starben pro Jahr deutlich mehr Menschen bei Anschlägen als zuletzt. Seit 2000 sind im Durchschnitt 48 Menschen pro Jahr in ganz Europa Terroranschlägen zum Opfer gefallen. Die Wahrscheinlichkeit, selbst davon betroffen zu sein, erscheint also eher gering, obwohl sich die Zahlen nach den Attentaten in Frankreich und Deutschland nach oben bewegen werden. Warum macht diese Statistik so wenig Mut?
Das kommt daher, dass die meisten Menschen wenig Zutrauen in langfristige Trends haben. Sie glauben, jetzt ist der Trend gebrochen und jetzt wird es schlagartig schlimmer. Das kann durchaus so sein, aber meistens bleibt es doch bei den langfristigen Trends mit kleinen Korrekturen.

Gewöhnen sich Menschen irgendwann an Risiken – und auch an Terror?
Ja, das tun sie. Dort wo Terror zum Alltag gehört, im Irak, in Nigeria, in Afghanistan oder Pakistan haben sich die Menschen weitgehend an diese Gefahren angepasst und verdrängen sie auch zum Teil aus ihrem Alltag. Man kann nicht ewig in Angst leben. Wenn allerdings die Ordnung wie in Syrien völlig zusammenfällt, reagieren die Menschen eher mit Traumatisierung. Sie spalten mental die furchtbaren Erlebnisse aus ihrem Leben ab.

Menschen in Deutschland und Frankreich bekunden, künftig Großereignisse meiden zu wollen, um ihr Risiko zu begrenzen. Ist das eine sinnvolle Strategie?
Nein. Wir haben in Deutschland rund 40.000 Ereignisse am Tag. Selbst wenn jeden Tag eines davon betroffen wäre – was völlig unwahrscheinlich ist –, bleiben 39.999 übrig. Rein aus der Wahrscheinlichkeitslehre ist es eher zu erwarten, bei der Fahrt mit dem Auto zu einem Großereignis ums Leben zu kommen als durch einen Terroranschlag während des Ereignisses.

Paris, Brüssel, Nizza, Istanbul, Würzburg, Ansbach – von Syrien, Irak und Afghanistan ganz zu schweigen: Wird die Welt wirklich immer gefährlicher, wie viele Menschen derzeit annehmen?
Auch das stimmt nicht. Das kann man schon einfach daran ablesen, dass die Lebenserwartung weltweit steigt, auch in der Tschechischen Republik. Je älter Menschen im Schnitt werden, desto weniger Lebensrisiken müssen sie logischerweise durchlebt haben. Von daher leben wir Jahr für Jahr sicherer als im Jahr zuvor. Das gilt wie gesagt für fast alle Nationen dieser Welt, natürlich nicht für jedes Individuum. Nach wie vor werden auch jüngere Menschen Opfer von Verbrechen, Verkehrs­unfällen, Haushaltsunfällen oder heimtückischen Krankheiten. In der Summe werden es aber immer weniger.