„Mit Erasmus ist der EU ein Geniestreich gelungen“

„Mit Erasmus ist der EU ein Geniestreich gelungen“

Seit über 15 Jahren ermöglicht das europäische Austauschprogramm auch tschechischen Studierenden einen Aufenthalt im Ausland. Der ehemalige Erasmus-Stipendiat Tomáš Lindner zieht Bilanz

22. 5. 2014 - Text: Sabina Poláček

Tomáš Lindner zählt zur ersten Generation tschechischer Erasmus-Stipendiaten, die ins Ausland reiste und die europäische Integration hautnah erleben durfte. Der 32-Jährige ist überzeugt, dass Studien- und Arbeitsaufenthalte im Ausland die tschechischen Bürger weltoffener machen und ihre Einstellung zur EU verbessern können. PZ-Mitarbeiterin Sabine Poláček sprach mit dem Journalisten, der zweisprachig im Erzgebirge aufwuchs, über seine Erasmus-Erfahrungen und den Wandel der tschechischen Gesellschaft.

Herr Lindner, im Jahr 1998 nahmen 879 tschechische Studenten zum ersten Mal am Erasmus-Programm der EU teil. Sie selbst absolvierten ein Studienjahr in Deutschland, ein Freiwilligenjahr in Island und arbeiteten bei einer Nichtregierungsorganisation in Sambia. Was war bei Ihrem Aufenthalt in Deutschland neu für Sie?

Tomáš Lindner: Die Seminare an der Uni Konstanz waren ganz anders als in Prag. Wir diskutierten intensiv aktuelle Themen, die damals in Tschechien kaum Beachtung fanden. So zum Beispiel die Effekte der Globalisierung oder was in den Entwicklungsländern geschieht. Ich entdeckte tolle Bücher, die es in tschechischer Übersetzung nicht gab. Die Professoren in Konstanz lasen tatsächlich unsere Seminararbeiten – das war in Prag gar nicht selbstverständlich! Sie nahmen sich Zeit und gaben oft kluge Tipps.

Bundespräsident Joachim Gauck plädierte kürzlich bei seinem Staatsbesuch in Prag dafür, Jugendaustausch zu fördern. Auch Sie sind der Meinung, dass Auslandsaufenthalte bei jungen Leuten viel bewirken. Inwiefern?

Lindner: Mit dem Erasmus-Programm ist der EU ein Geniestreich gelungen. Denn längere Auslandsaufenthalte öffnen Augen, schaffen Freundschaften und zeigen neue Perspektiven auf. Sie fördern Weltoffenheit und Toleranz. Die Erfahrungen, die junge Menschen in der Fremde machen, dienen der europäischen Idee. Ich sehe darin aber auch eine große Herausforderung. Studierende technischer Unis und hauptsächlich weniger gebildete junge Leute mit schlechten Sprachkenntnissen sollten vermehrt in europäische Projekte einbezogen werden. Sonst entsteht zwar eine kosmopolitische Bildungselite, aber die weniger Gebildeten, an denen diese neuen Chancen vorbeigehen, können mit Europa weniger anfangen und leben weiterhin nur in ihrem eigenen Land.

Sie plädieren also dafür, dass Auslandsstipendien und Austauschprogramme politische Priorität genießen sollten.

Lindner: Genau. Die erste tschechische Erasmus-Generation, zu der ich mich zähle, steht der heutigen Politik des Landes kritisch gegenüber und ist in ihr deutlich unterrepräsentiert. Ich bin aber davon überzeugt, dass sie „durch die Institutionen marschiert“ und das Land langfristig verbessern wird. Der Fehler unserer Generation ist es, dass wir nicht in klassische politische Parteien eintreten, obwohl gerade dort Demokratie gemacht wird und nur dort auch die Macht der Veränderung liegt. Ich hoffe außerdem, dass die heutige Erasmus-Generation ihrerseits die  Anbindung an die Politik sucht und rassistischen Parteien wie Úsvit Einhalt gebieten kann. Das ist die gesellschaftliche Herausforderung der heutigen tschechischen Jugend.

Das neue Programm „Erasmus+“ ist im Januar 2014 angelaufen und soll bis 2020 vier Millionen jungen Menschen eine Freiwilligentätigkeit in den Teilnahmeländern ermöglichen. Welche Auswirkungen haben solche Förderungen für die Gesellschaft?

Lindner: Das ist ähnlich wie mit dem klassischen Erasmus: Junge Leute sehen ihre Heimat eine Zeit lang von außen, finden Inspiration und versuchen nach ihrer Rückkehr, Tschechien zu verbessern. Das möchte ich zumindest glauben, obwohl es vielleicht etwas naiv ist. Wenn sie sich heute junge Tschechen ansehen, die etwas bewegen, dann haben fast alle inspirierende Auslandserfahrungen hinter sich. Es ist ein gesellschaftlicher Wandel erkennbar. Die Folgen werden in Zukunft sichtbar werden – nur wird dies noch eine Weile dauern. Es handelt sich um eine stille Revolution, die langsam voranschreitet.

Zur Person
Tomáš Lindner wurde 1981 in Pernink (Bärringen) bei Karlsbad (Karlovy Vary) geboren. Er wuchs bei seinen deutschsprachigen Großeltern auf und lernte erst im Kindergarten Tschechisch. Während seines Studiums der Politikwissenschaften an der Prager Karls-Universität unternahm er Studien- und Arbeitsaufenthalte in Deutschland, Sambia und Island, die ihn stark prägten. Der 32-Jährige arbeitet seit 2008 als Journalist für die tschechische Wochenzeitschrift „Respekt“ und widmet sich thematisch am liebsten Deutschland und Afrika. Das Buchprojekt, an dem er derzeit arbeitet, handelt von den verbliebenen Deutschen im tschechischen Teil des Erzgebirges. Anfang Mai dieses Jahres hielt Lindner im Rahmen der Vortragsreihe „25 Jahre Samtene Revolution – Tschechische Journalisten ziehen Bilanz“ im Kulturforum im Sudetendeutschen Haus in München den Vortrag „Gegen den Pessimismus: Erzählungen aus der ersten tschechischen Erasmus-Generation“.

Eckdaten zu Erasmus
Das Erasmus-Stipendienprogramm der Europäischen Union wurde 1987 gegründet. Damals gingen nach EU-Angaben 3.000 junge Leute aus elf Ländern ins Ausland studieren. Tschechien wurde 1997 zum ersten Mal in das Bildungsprogramm aufgenommen, obwohl es noch nicht EU-Mitglied war. Laut der National Agency for European Educational Programmes (NAEP) nahmen im Studienjahr 1998/1999 insgesamt 879 tschechische Studenten und 366 tschechische Lehrer daran teil. Zum Vergleich: Im selben Studienjahr zählte der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) rund 14.700 deutsche Erasmus-Studenten. Seit der Einführung des Austauschprogramms haben über drei Millionen Studierende das Erasmus-Stipendium in Anspruch genommen. Deutschland ist nach EU-Angaben nach Spanien und Frankreich das drittbeliebteste Zielland. Das neue EU-Programm „Erasmus+“ für allgemeine und berufliche Bildung, Jugend und Sport ist im Januar 2014 angelaufen. Ziel ist es, bis 2020 rund vier Millionen Menschen einen Studien-, Fortbildungs- oder Lehraufenthaltsplatz oder die Ausübung einer Freiwilligentätigkeit in einem anderen Teilnahmeland zu ermöglichen. Das Budget für „Erasmus+“ beläuft sich auf rund 14,5 Milliarden Euro. Das sind laut EU-Angaben 40 Prozent mehr als für die bisherigen Programme zur Mobilitätsförderung.