Klein-Böhmen lag am Meer
Bis zu 40.000 Tschechen und Slowaken lebten zeitweise an New Yorks Upper East Side. Von dem Viertel rund um den „Bohemian Broadway“ ist heute nicht mehr viel übrig. 1918 war es einer der Geburtsorte der Tschechoslowakei
27. 3. 2018 - Text: Michael Watzka, Titelfoto: Emanuel Hahn on Unsplash
Als Tomáš Garrigue Masaryk am 25. Mai 1918 vor mehreren tausend Zuhörern in der New Yorker Carnegie Hall sprach, war das so etwas wie ein Heimspiel für den damals 68-Jährigen: Von einem Siegeszug tschechischer und slowakischer Sokol-Patrioten war er zuvor ins nebenan gelegene Plaza Hotel begleitet worden, wo er vom Balkon für die Gründung eines Nationalstaats warb. Ausgangspunkt der Parade: die Sokol-Turnhalle in dem knapp zehn Blöcke weiter nördlich gelegenen Viertel mit dem Namen „Little Bohemia“ – „Klein-Böhmen“.
In dem Quartier zwischen 65. und 79. Straße an Manhattans Upper East Side lebten zu dieser Zeit rund 40.000 Exiltschechen und -slowaken. In der Neuen Welt nannte man sie schlicht „Bohemians“, Böhmen – in der Alten hatten sie bislang nicht einmal einen eigenen Staat. Staatsgründung und Unabhängigkeit von der Donaumonarchie waren aber auch ihnen eine Herzensangelegenheit – trotz tausender Kilometer und mehrerer Zeitzonen Distanz.
Eingeschifft – und als Österreicher registriert
Denn nachvollziehen ließ sich der Konflikt mit dem Habsburgerreich für die Auswanderer auch im fernen Amerika, etwa am Einwandererstatus: Die Böhmen, die ihre Heimat ab Mitte des 19. Jahrhunderts verlassen und in den New Yorker Häfen eingeschifft hatten, wurden dort von den US-Behörden zunächst als Österreicher erfasst. Noch heute findet man sie so in den Statistiken wieder.
Aufgespürt hat sie dort der Historiker Vlado Šimko, der – mehr als ein halbes Jahrhundert später – im Zuge der 68er-Fluchtwelle selbst in die USA emigriert ist. Der 1931 in Bratislava geborene Gastroenterologe, der seit Anfang der Achtziger in New York lebt, hat sich auch mit den Schicksalen anderer tschechischer Einwanderergemeinden beschäftigt, etwa in Cleveland oder Chicago. Von der „Community“ in New York gehe aber eine besondere Faszination aus, sagt der 86-Jährige – nicht zuletzt wegen ihrer Rolle bei der Staatsgründung vor hundert Jahren.
Während ihn selbst politische Gründe zur Auswanderung bewegt hätten, sei es im 19. und frühen 20. Jahrhundert vor allem die Suche nach Lohn und Brot gewesen, die die Emigranten zur Reise über den Atlantik trieb. Neben rund 5 Millionen Deutschen und in etwa so vielen Italienern waren die Slawen dabei in guter Gesellschaft: Stadtviertel wie „Little Italy“ zeugen in New York noch heute von dieser Einwanderungswelle.
Unter den etwa 3 Millionen Österreichern, die allein zwischen 1880 und 1910 in Amerika ankamen, waren auch knapp 190.000 Böhmen. Etwa 50.000 landeten – wie Franz Kafkas Protagonist Karl Roßmann – in den Häfen von New York und blieben dort. Ein Großteil davon stammte aus der Region um Kutná Hora (Kuttenberg), wo es zu jener Zeit eine große – obgleich schlecht zahlende – Tabakindustrie gab. In New York ließen sich die böhmischen „Doutnikáři“ dann zunächst an der Lower East Side in Manhattan nieder – und fanden dort besser entlohnte Arbeit.
Auch in der Neuen Welt gab es Zigarren zu drehen. Die böhmischen Fertigkeiten waren gefragt, zunächst in Heimarbeit, dann in Fabriken. Erst mit dem Wohlstand zog es die Böhmen in den 1890ern wie die Deutschen und andere Einwanderergemeinden an die weiter nördlich gelegene Upper East Side. Während sich die deutschsprachigen Böhmen größtenteils den Sprachgenossen in „Little Germany“ anschlossen, besiedelte der slawisch sprechende Teil zwischen 65. und 79. Straße das Gebiet, das man fortan „Little Bohemia“ nannte. Doch auch Ungarn, Russinen und Deutschböhmen lebten hier – „die Grenzen waren fließend“, meint Šimko.
Den Geruch von Zigarren, sagt die 1928 geborene Norma Žabka, verbinde auch sie noch mit ihrer Kindheit, auch wenn die Gemeinde in den zwanziger Jahren schon zu schrumpfen begann. Ihre Eltern, Einwanderer der ersten Generation, seien wie viele andere Böhmen um 1900 in die Gegend um die First Avenue gezogen – auch der „Bohemian Broadway“ genannt. Žabka, die in „Little Bohemia“ geboren und aufgewachsen ist, hat lebhafte Erinnerungen an das Viertel, in dem sie fast ihr gesamtes Leben verbracht hat. Für sie und viele andere habe es schlichtweg keinen Grund gegeben, woanders hinzugehen.
Denn was sich für mehr als fünf Dekaden zwischen East River und erster Avenue erstreckte, würde man heute wohl als Parallelgesellschaft bezeichnen: Tschechische Fleischer und Versicherungsbüros, böhmische Anwälte, Bestatter, Bäcker und Briefträger sorgten für ein Umfeld, in dem man theoretisch ohne Englischkenntnisse auskam. Sogar zwei Kirchengemeinden, 17 Gaststätten und über 20 „Hospodas“ gab es in dem gut ein Dutzend Blöcke umfassenden Areal. Nachrichten, sagt Žabka, entnahm man der hiesigen – selbstverständlich tschechischsprachigen – Lokalpresse. Nicht einmal für den Arztbesuch hätte man die Nachbarschaft verlassen müssen: „Es war ein in sich geschlossenes System.“
Sie selbst habe zudem eine von zwei Grundschulen besucht, die es in den Dreißigern und Vierzigern noch gegeben hat: Ob Rechnen, Erdkunde oder Lesen – der Unterricht fand komplett auf Tschechisch statt und sollte den an der englischsprachigen öffentlichen Schule ergänzen. Sogar ein eigenes Lehrbuch habe es gegeben, erinnert sich Pavel Pačes: Zwischen 1912 und 1917 erschienen drei Auflagen dieser „Čítanka“.
1949 in Prag geboren, wanderte Pačes im Alter von zwei Jahren mit seinen Eltern nach Amerika aus. Wie Žabka besuchte er nachmittags die tschechische Schule, beide sprechen fließend Tschechisch. Vom Tellerwäscher zum, nun ja, nicht gerade Millionär habe er sich hochgearbeitet, sagt Pačes und lacht. Im Restaurant „Zlata Praha“ habe er einmal den berühmten Fernsehmoderator Walter Cronkite bedient.
Pačes, der seine Muttersprache Englisch mit einem dicken New Yorker Akzent spricht, erzählt von einer Zeit, in der sich das Leben in der einst geschlossenen Gemeinde bereits stark gewandelt hatte. Nach dem Ersten Weltkrieg und der Gründung der Tschechoslowakei kamen immer weniger neue Einwanderer hinzu. Die, die schon da waren, assimilierten sich langsam oder zogen in weiter stadtauswärts gelegene Viertel. Der soziale Aufstieg sorgte für Fluktuation. Von der Blütezeit der „Community“ zwischen 1890 und 1920 war da zwar noch einiges übrig – etwa die Bohemian National Hall, das 1896 errichtete Gemeindehaus und soziale Herz des Viertels. Von den bis zu 40.000 Bewohnern, die hier um 1900 gelebt hatten, war man aber weit entfernt.
Von der Sokol-Division zur neuen Flagge
Ein anderes Überbleibsel ist die örtliche Sokol-Division. Die 1867 gegründete Abteilung der auf Folklore ausgerichteten Turnbewegung sei früher vor allem ein Ort für Patriotismus und Panslawismus gewesen, erklärt Historiker Šimko. Anfang des 20. Jahrhunderts habe die hiesige Division einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zur Gründung der Tschechoslowakei geleistet. Šimko nennt „Little Bohemia“ deshalb auch einen ihrer „Geburtsorte“.
Viele New Yorker Böhmen hätten im Ersten Weltkrieg ohnehin auf Seiten der USA gekämpft. Politische Forderungen nach einem eigenen Staat kamen während des Krieges zudem vor allem aus den Auswanderer-Gemeinden wie der in New York. Masaryk, der nur wenige Monate nach seiner Rede in der Carnegie Hall erster Präsident der neugegründeten Republik werden sollte, war 1878 zum ersten Mal in den USA gewesen. In Brooklyn hatte er damals Charlotte Garrigue geheiratet, eine amerikanische Unternehmertochter. In Chicago hatte er später eine Gastprofessur inne, in New York hielt er Reden und knüpfte wichtige Kontakte, die die Staatsgründung vereinfachten.
Und auch die Flagge, davon ist Šimko überzeugt, habe man der neuen Republik von New York aus gestiftet – wobei sich die Erzählungen hier widersprächen. Der Legende nach sei es mit einem gewissen Josef Knedlhans ausgerechnet einer mit deutschem Namen gewesen, der dem umjubelten Masaryk auf dem Balkon des Plaza Hotels die selbstentworfene Flagge präsentiert habe: Rot und Weiß – die böhmischen und mährischen Farben – seien der polnischen und österreichischen Fahne zu ähnlich gewesen. So habe Knedlhans den beiden Streifen kurzerhand ein blaues Dreieck einverleibt: die Slowakei.
In den fünfziger Jahren kam die Gentrifizierung
Und heute? Viel übrig ist nicht mehr vom einstigen Viertel um den „Böhmischen Broadway“. Neben einer 1888 errichteten Kirche (heute: Jan Hus Presbyterian Church) erinnert noch das Gebäude der Bohemian National Hall an die Geschichte der New Yorker Böhmen. Heute befinden sich hier unter anderem die Räume des Tschechischen Generalkonsulats, das Tschechische Zentrum und ein böhmisches Restaurant.
Das Ende, sagt Pačes, sei für das Viertel Anfang der Fünziger gekommen – mit dem Bau des Hauptquartiers der Vereinten Nationen zwanzig Blöcke weiter südlich. Mit der UN kamen die Diplomaten, deren Mitarbeiter und die in New York gleichermaßen gefürchteten wie unvermeidlichen „Highrises“: Hochhäuser, gleichbedeutend mit dem Austausch ganzer Bevölkerungsschichten. Der Bedarf nach Wohnraum habe die gesamte Upper East Side nachhaltig verändert, erklärt Pačes. Den New Yorker Böhmen seien in Manhattan schließlich die Mieten zu teuer geworden, ein Großteil der Gemeinde sei bis 1970 in weiter außerhalb gelegene Stadtteile wie Astoria im Bezirk Queens gezogen.
Mit ihnen habe sich auch der Gemeinschaftsgeist verlaufen. Eine tschechische Schule etwa gibt es heute im Viertel nicht mehr. Lesungen und Vorträge werden zwar vom Tschechischen Zentrum für Interessierte und New Yorker mit tschechischen Wurzeln angeboten, statt böhmischer Kneipen sind es jetzt aber vor allem chinesische Restaurants, die man an der Upper East Side findet. Die Nachfahren der europäischen Emigranten aus dem 19. Jahrhundert sind – als Weiße – fest integriert in die US-Gesellschaft, vom kulturellen Erbe ist oft nur ein Nachname und die überlieferte Familiengeschichte übrig.
Neue Einwanderergruppen – Puerto Ricaner, Mexikaner, Chinesen – hätten heute mit ähnlichen und schlimmeren Ressentiments zu kämpfen wie die Böhmen damals, sagt Pačes. Derzeit am prominentesten verlautbart würden diese Vorurteile dabei gerade von einem Mann, dessen eigene Vorfahren sich wohl im Grabe umdrehen würden: Donald Trump. Dessen Großvater hatte sich nämlich, ähnlich wie die Bewohner von „Klein-Böhmen“, Ende des 19. Jahrhunderts zunächst in „Little Germany“ aufgehalten, der deutschsprachigen Exil-Community – und bei seiner Ankunft in New York kein Wort Englisch gesprochen.
Michael Watzka lebt als freier Journalist in New York und promoviert an der Columbia University.
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