„Kafka zu lesen, ist immer ein Genuss“

„Kafka zu lesen, ist immer ein Genuss“

Diese Woche eröffnet in Prag eine Forschungsstelle zur deutsch-böhmischen Literatur. Die Mitbegründer im Gespräch

27. 5. 2015 - Text: Stefan WelzelInterview und Foto: Stefan Welzel

Vor zehn Jahren wurde der Germanist Manfred Weinberg an die Prager Karls-Universität berufen. Seit September 2010 wirkt er dort als Professor für Neuere Deutsche Literatur. Damit trat er indirekt die Nachfolge von Kurt Krolop an, der 1968 ein Forschungsprojekt zur Prager deutschen Literatur an der Tschechoslowakischen Akademie der Wissenschaften leitete, ehe dieses Engagement nach dem Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen wieder beendet wurde. An diesem Freitag begeht Weinberg zusammen mit Štěpán Zbytovský sowie drei weiteren Mitbegründern die Eröffnung der neuen, nach Krolop benannten Forschungsstelle. PZ-Redakteur Stefan Welzel sprach mit Weinberg und Zbytovský über veraltete wissenschaftliche Ansätze, unbekannte deutsch-böhmische Autoren und Franz Kafkas Verständnis von nationaler Identität.


Herr Weinberg, was macht man als Erstes, wenn man eine Forschungsstelle neu aufbaut?


Manfred Weinberg:
Man legt den Gegenstand fest, in unserem Fall als Prager Germanisten naheliegenderweise die deutsch-böhmische und die Prager deutsche Literatur, und beantragt externe Drittmittel, die jedoch leider nicht bewilligt wurden. Mit unserer Dekanin haben wir dann über die Möglichkeit gesprochen, die Forschungsstelle auch ohne Basisfinanzierung zu gründen und erhielten ihre Unterstützung. Nun feiern wir rechtzeitig zu Kurt Krolops 85. Geburtstag die Eröffnung.

Die Forschungsstelle wird also ausschließlich von der Prager Karls-Universität finanziert.

Weinberg: Und dies auch nur indirekt, da drei der fünf Gründer Angestellte des Instituts für germanische Studien an der Philosophischen Fakultät der Karls-Universität sind. Weitere Anträge auf finanzielle Unterstützung sowohl auf tschechischer wie auch auf deutscher Seite sind bisher gescheitert, obwohl wir immer ausgezeichnete Gutachten erhalten haben. Interessierte sind gerne eingeladen, uns zu unterstützen.

Wo ordnen Sie die Forschungsstelle in der tschechischen Wissenschaftspolitik ein? Ist es ein längst überfälliges Projekt oder einfach eine schöne Geste der Völkerverständigung?

Štěpán Zbytovský: Hierzulande hört man immer wieder die Meinung, die deutsch-böhmische beziehungsweise Prager deutsche Literatur sei eine wissenschaftlich längst abgehakte Sache. Aber ein Großteil der bisher hier geleisteten Forschung entstand aus marxistisch-leninistischer Sicht und mit entsprechenden wissenschaftlichen Ansätzen. Wir legen eine ganz andere, neue Herangehensweise an den Tag und wollen die Prager deutsche Literatur in den Gesamtkontext der mitteleuropäischen Kulturgeschichte stellen. Das hätte natürlich schon in den neunziger Jahren systematisch geschehen müssen, damals hat man sich aber mit anderen Dingen beschäftigt. Es besteht durchaus Nachholbedarf.

Können Sie das genauer erklären?

Weinberg: Das Modell, die stehende Rede von der „einen Prager deutschen Literatur“ ist bei zwei Konferenzen 1963 und 1965 in Liblice etabliert worden. Einer der führenden Köpfe war dabei der tschechoslowakische Germanist Eduard Goldstücker, der für die damaligen Zeiten naheliegend in erster Linie Marxisten zusammenrief, die darüber diskutiert haben, ob Kafka einem Kommunisten überhaupt etwas zu sagen hat oder ob man ihn nicht als dekadenten „Bourgeois“ zur Seite legen sollte. Um eine aus seiner Sicht sinnvolle Beschäftigung mit Kafka und den Autoren der Prager deutschen Literatur zu rechtfertigen, stellte Goldstücker den als durchgängig humanistisch verstandenen Prager deutschen Autoren die vermeintlich immer nur nationalistischen, gar präfaschistischen sudetendeutschen Autoren entgegen. Zudem ließ er die Prager deutsche Literatur erst 1894 mit dem ersten Gedichtband von Rainer Maria Rilke beginnen. Und nicht zuletzt übernahm er Pavel Eisners Diagnose eines „dreifachen Ghettos“, also einer strikten Abgrenzung der Prager deutschsprachigen Autoren als Deutsche unter Tschechen, Christen unter Juden und sozial höher unter sozial niedriger Gestellten. Eine solche Abtrennung ist inzwischen historisch als viel zu einfach widerlegt. Das Problem ist nur, dass die deutsche „Inlandsgermanistik“ eben diese vereinfachende Einteilung übernommen und auch nach 1989 nicht revidiert hat. Dieses Schema wollen wir nun durchbrechen.

Welche Rolle spielte Kurt Krolops Arbeit in den sechziger, danach auch in den neunziger Jahren als Professor in Prag für Ihr heutiges Wirken?


Weinberg:
Seine entscheidende Bedeutung kann man am einfachsten durch den Umstand verdeutlichen, dass er auch schon bei den Konferenzen in Liblice dabei war. Sein wichtiger Vortrag auf der zweiten Konferenz steht für das Gegenteil von Goldstückers Generalisierung: Krolops Aufsätze zeigen allesamt eine detaillierte wissenschaftliche Vorgehensweise. Diese Ausrichtung macht Krolop zu unserem „Säulenheiligen“; deswegen trägt unsere Institution seinen Namen.

Ihre Forschungsstelle ist sehr stark interdisziplinär ausgerichtet. Ist das der Schlüssel, um die deutsche Prager Literatur einem breiteren Publikum näherzubringen?


Zbytovský:
Die Öffnung in ein weites Forschungsfeld der Kulturwissenschaften folgt einer Tendenz, die überall zu beobachten ist. Natürlich wollen auch wir uns nicht nur auf das rein Philologische und die Geschichte der Literatur und der Sprache beschränken. Unter anderem wollen wir vielmehr die Autoren selbst und ihre Verflechtung in die damaligen kulturellen Lebensumstände untersuchen.

Weinberg:
Die Interdisziplinarität ist bei diesem Thema absolut notwendig. Die Forschungsstelle ist zwar ein Teil des hiesigen germanistischen Institutes, in unserem wissenschaftlichen Beirat sitzen aber auch Bohemistinnen und Historiker.

Die Prager deutsche Literatur wird oft auf die Epoche zwischen Ende des 19. und Mitte des 20. Jahrhunderts und die drei Namen Kafka, Werfel und Rilke reduziert. Welches zeitliche und inhaltliche Raster werden Sie bei Ihrer Arbeit verwenden?

Weinberg:
Diese Terminierung halten wir für überholt. Man muss schon viel weiter zurückgehen. Es hat keinen Sinn, nur das, was Max Brod später als engeren und weiteren Prager Kreis bezeichnet hat, in den Fokus zu stellen. Lucie Černohousová, die ehemalige Leiterin des Prager Literaturhauses, hat einmal eine Runde von Experten gefragt: Was ist für euch die Prager deutsche Literatur? Peter Demetz hat darauf aus unserer Sicht passend geantwortet: Alle deutschsprachige Literatur in Prag seit Anbeginn.

Welche Namen gehören da zum Beispiel dazu?

Weinberg: Wenn man sich nur auf die Zeit ab dem späten 19. Jahrhundert beschränkt: Paul Leppin, Victor Hadwiger oder auch der Concordia-Kreis um die Autoren Friedrich Adler, Hugo Salus oder Emil Faktor. Erst wenn man diese Vorgeschichte kennt, kann man etwa auch die Texte von Kafka in einen größeren kulturgeschichtlichen Zusammenhang einordnen. Doch würde man die gesamte Geschichte deutschsprachiger Literatur in Prag und Böhmen aufarbeiten wollen, bräuchte man mindestens 20 Mitarbeiter über einen Zeitraum von zehn Jahren. Obwohl wir die Mittel dafür noch nicht haben, werden wir das Projekt jetzt aber angehen.

Wie stark beeinflusste die zeitgenössische tschechische Literatur die deutschen Autoren in Böhmen?

Weinberg: Der Sprung der Prager deutschen Autoren in die literarische Modernität ging sehr schnell vonstatten und er ist nicht ohne die bereits vorhandene, moderne tschechische Literatur zu denken. Das ist bisher oft ignoriert worden – auch weil die Germanistik im deutschsprachigen Raum kaum eine Ahnung von der tschechischen Literatur der Zeit hat. Wir hier in Prag wollen die deutschsprachige Literatur Böhmens auch im Kontext des kulturellen Austausches darstellen.

Zbytovský: Viele tschechische Autoren um das Magazin „Moderní revue“ wie Josef Karásek oder Arnošt Procházka sowie bedeutende Dramaturgen und Übersetzer wie Otokar Fischer haben die Entwicklungen in Frankreich oder anderswo in Europa früher und intensiver wahrgenommen als ihre deutschsprachigen Kollegen und sie so wesentlich beeinflusst.

Prag war damals ein kultureller Schmelztiegel, ehe das konfliktreiche 20. Jahrhundert einen großen Schnitt herbeiführte. Wie beurteilen Sie die Position der neuen Forschungsstelle im nun vereinten Europa des 21. Jahrhunderts?

Weinberg: Auf deutscher wie auf tschechischer Seite fehlten lange die notwendigen Kenntnisse oder aber der Wille, über das gemeinsame Leben im damaligen Böhmen zu reden. Somit sehe ich unser Wirken auch ein Stück weit als politischen Auftrag, diese Geschichte zu erzählen und in den heutigen europäischen Kontext zu stellen. Hierzu gibt es eine nette Anekdote: Franz Kafka und Max Brod mussten in ihrem Studienbuch an der Karl-Ferdinands-Universität ihre Nationalität angeben. Sie haben aber niemals Österreich-Ungarn eingetragen, sondern immer nur Prag oder Böhmen. Das war Ausdruck ihres Selbstbewusstseins, als Prager oder Böhmen Teil eines vernetzten Europas zu sein.

Zbytovský: Wir sollten Europa aus der Perspektive eines gemeinsamen Ideals sehen. Dafür wurde in letzter Zeit schon viel getan, wir müssen aber alle weiterhin daran arbeiten. Und einen kleinen Beitrag hierzu kann auch diese Forschungsstelle leisten.

Seit 2004 existiert bereits das Prager Literaturhaus deutschsprachiger Autoren, gegründet unter anderem auf Initiative von Kurt Krolop. Inwiefern unterscheidet sich Ihre Arbeit von derjenigen des Literaturhauses?

Weinberg: Die Differenz zwischen uns und dem Prager Literaturhaus deutschsprachiger Autoren ist ganz einfach: Wir befassen uns wissenschaftlich forschend mit der Prager deutschen Literatur, entwickeln dabei ein neues Beschreibungsmodell und fördern bislang unbeachtete aussagekräftige Materialien aus den Archiven zu Tage. Das Literaturhaus hat dagegen keinen wissenschaftlichen Anspruch, sondern will die Prager deutsche Literatur in der Öffentlichkeit bekannt machen, was ihm mit seinem vielfältigen Programm ja auch sehr gut gelingt. Umso schöner, dass sich durch unsere Vortragsreihe im Literaturhaus und gemeinsame Veranstaltungen etwa in der Deutschen Botschaft beide Ausrichtungen auch immer wieder zusammenbringen lassen.

Zum Schluss eine persönliche Frage: Welche sind Ihre Lieblingsautoren der Prager deutschen Literatur?

Zbytovský: Kafka natürlich! Es ist kein Muss, Kafka zu lesen, sondern immer noch ein Genuss. Mir gefällt auch der wilde, leidenschaftliche Stil Paul Leppins sehr gut.

Weinberg: Auch Kafka, vor allem unter Einbezug einer kulturhistorischen Perspektive seiner Texte. Wichtig ist aber auch eine Beschäftigung mit den weniger bekannten Autoren wie eben die bereits erwähnten Leppin, Hadwiger oder Rudolf Fuchs und Karl Brand. Außerdem versuche ich, mein Tschechisch so weit zu verbessern, dass ich hinsichtlich der tschechischen Literatur endlich nicht mehr auf Übersetzungen angewiesen bin.