Irgendwo im Nirgendwo

Irgendwo im Nirgendwo

Ein zweisprachiger Erzählband nimmt den Leser mit auf die Reise durch innere und äußere Landschaften

2. 4. 2015 - Text: Franziska NeudertText: fn; Foto: Matthias Ripp

Seit jeher gehört das Thema Reise zu den zentralen Motiven in der Weltliteratur. Reisen – das heißt unterwegs sein, die Fremde erfahren und Proben bestehen. Eine Reise kann aber auch der Alltag sein, die Begegnung mit anderen Menschen und neuen Situationen. Für den zweisprachigen Erzählband „Unterwegs. Geschichten aus Westböhmen und Ostbayern – Cestou. Příběhy z východního Bavorska a západních Čech“ haben sich jeweils zehn Autoren aus beiden Ländern auf literarische Wanderschaft begeben. Aufgefordert von der ostbayerischen Regionalgruppe des Verbandes deutscher Schriftsteller haben sie anlässlich des Pilsener Jahres als Kulturhauptstadt ihre Gedanken zum Thema Unterwegssein niedergeschrieben.

Entstanden sind 20 Kurzgeschichten, die aus verschiedenen Perspektiven von Erlebnissen auf dem Weg erzählen. Auf der Straße, im Wasser, am Flughafen, auf der Flucht oder in den Bergen – der Leser trifft die Protagonisten an unterschiedlichen Orten, folgt ihnen sogar bis ans Ende der Welt. Er durchwandert mit ihnen ihr Inneres, wird Zeuge von Freude und Sehnsucht, Einsamkeit und Verzweiflung. Die Kurzgeschichten, sowohl in deutscher als auch tschechischer Sprache abgedruckt, sind mitunter humorvoll und ironisch, bisweilen märchenhaft und fantastisch, vor allem aber stimmen sie nachdenklich.

So erzählt Jitka Prokšová in „Unterwegs zum Fenster“ („Cestou k oknu“) von einem im Sterben liegenden Mann, dessen Herz wegen der Unstimmigkeiten mit seiner Tochter zerrissen ist. Bevor er die Augen für immer schließt, möchte er sich mit ihr versöhnen und ruft sie vom Krankenhaus an. Doch das Telefon schweigt. Am Ende stirbt der Alte; seine Seele verlässt den Körper: „Am meisten ärgert sie (…), dass sie nicht vermocht hat zu versöhnen. Dass sie erlaubt hat, dass dieses starrköpfige Hirn auf der Erkenntnis beharrte, die das Herz des Alten nicht akzeptieren wollte. Und so verstummte sie bei Tagesanbruch lieber von selber, gebrochen von der Suche nach der Schuld, gebrochen von der Suche nach dem eigenen Fehler …“

Die ersten Ausflüge ins Nachbarland Tschechien dokumentiert Elfi Hartensteins „Kulissenwechsel“ („Výměna kulis“): Marianne ist Innenarchitektin und dienstlich unterwegs nach Karlovy Vary. Auf dem Weg begegnet sie Jana, die am Straßenrand steht. Erst auf den zweiten Blick begreift sie, dass Jana das nicht freiwillig macht. Auch Marie, Hedwig und Teresa sind Prostituierte. Sie werden „morgens auf die Strecke gekarrt, ausgesetzt, stehen gelassen bis abends, bis zum Einsammeln, bis zur Abrechnung“.

Mythisches berichtet „Sind wir uns schon einmal begegnet?“ („Potkali jsme se už někdy?“) von Carola Kupfer: Mit Rusálka taucht der Leser ab in die Unterwasserwelt. Er erfährt von den Sehnsüchten des Wassergeistes, von dessen Einsamkeit und seinem Schicksal, allein umherirren zu müssen.

Mit Pilsens Partnerstadt Regensburg haben die Schriftstellerverbände Ostbayern und Westböhmen ein besonderes Projekt ins Leben gerufen: Für „Literatur in Wanderstiefeln“ begeben sich bayerische und tschechische Autoren gemeinsam auf die Reise. Von 18. bis 27. September werden sie in zehn Etappen von Regensburg nach Pilsen wandern. Mit im Gepäck: der Sammelband „Unterwegs“, aus dem die Schrifsteller vorlesen werden. Denn jede Tagestour soll am Abend mit einer zweisprachigen Lesung ausklingen, die auch für das breite Publikum gedacht ist. Am Ziel der Wanderung steht die Euopäische Kulturhauptstadt 2015, wo die Teilnehmer ihren Fußmarsch mit einem Literatur- und Kulturfest beenden werden.

Unterwegs. Geschichten aus Westböhmen und Ostbayern – Cestou. Příběhy z východního Bavorska a západních Čech. Hrsg. vom Verband deutscher Schriftsteller – Regionalgruppe Ostbayern. Pustet-Verlag, Berlin 2015, 187 Seiten, 14,95 Euro, ISBN 978-3-7917-2658-8