Sohn der Revolution

Sohn der Revolution

Jorge González (50) ist die schillerndste Figur in der deutschen Fernsehunterhaltung. Sein Erfolg begann in Prag und der Tschechoslowakei

17. 5. 2018 - Text: Klaus Hanisch

Jeden Freitag Abend das gleiche Ritual. „Ihre Wertung bitte, Jorge González!“, fordert eine tiefe Stimme aus dem Off. Gleich darauf teilt der gebürtige Kubaner einem Millionen-Publikum mit, wen und was er derzeit in der Show „Let’s Dance“ im Privatsender RTL gut oder schlecht findet. Immer mit einem strahlenden Lächeln und eigenartigen Betonungen deutscher Wörter. Dann wird aus einem „machen“ oft ein „Das hast du gut gemaaakt.“

Doch man hört ihm gerne zu. Denn er verströmt selbst dann gute Laune und große Lebensfreude, wenn er einem Teilnehmer mal nur fünf von zehn möglichen Punkten zuerkennt. Was aber selten vorkommt, weil er in der Regel die prominenten Tänzerinnen und Tänzer in einem günstigeren Licht erscheinen lässt als seine Mitjuroren.

Diese optimistische und nicht selten überschwängliche Ausstrahlung passte anfangs überhaupt nicht zu seinem Leben voller Hemmnisse und Einschränkungen. Denn Jorge Alexis González Madrigal Varona Vila – so sein vollständiger Name – musste einen weiten Weg gehen, von seinem kleinen Geburtsort Cabaiguán im sozialistischen Kuba bis in die Modeszene der kapitalistischen Welt. Und in die großen Unterhaltungsshows des deutschen Fernsehens. Nicht allein beruflich, sondern vor allem auch privat.

Die wichtigste Zwischenstation war dafür ab Mitte der achtziger Jahre die Tschechoslowakei. Dort erlebte er nicht nur den revolutionären Wandel nach 1989 mit, der ihm ein völlig neues Leben und Arbeiten ermöglichte. Vielmehr war er schon davor „frei, selbstbewusst und erwachsen“ geworden. „Ich konnte endlich so sein, wie ich bin“, urteilte González Jahre später – weil ihn der Aufenthalt im Gastland von Beginn an aus gesellschaftlichen Zwängen befreite.

Schon im zarten Alter von vier, fünf Jahren schwärmte er für Jungs. Zugleich zog ihn „die Welt der Frauen magisch an“, wie der Kubaner in seiner Biografie bekennt, „ich liebte Kleidung, Schminke, Schuhe und Tanzen“. In seiner prüden Heimat ein riesiges Problem. So fortschrittlich sich die sozialistischen Länder nannten, so kleinbürgerlich und spießig waren sie tatsächlich. „Die Gesellschaft sah Schwulsein als Krankheit an, die man bekämpfen musste“, schreibt Jorge González. Dies bekam er in seiner eigenen Familie zu spüren. „Männer tun so etwas nicht“, wies ihn sein Vater zurecht, nachdem er Klein-Jorge mit Ballerinas erwischte hatte. „Damals begann mein Doppelleben“, erinnert er sich. Selbst zu Hause fühlte er sich als Außenseiter. Nur seine Großmutter zeigte Verständnis. „Wenn dich jemand nicht mag, dann such dir einen anderen, der dich so annimmt, wie du bist“, gab sie ihm mit auf den Lebensweg, nachdem sie selbst 15 Kinder großgezogen hatte. „Du wirst jemanden finden, denn die Welt ist groß.“

Dennoch hielt er es für dringend geboten, sein „zweites Ich“ auf der Heimatinsel zu verstecken. „Dieses Gefühl, anders zu sein, schnürte mir die Luft zum Atmen ab“, notiert González. Er suchte nach Möglichkeiten, um der Enge seines Landes zu entfliehen. Und fand einen Ausweg: Er profilierte sich als Schüler und strebte ein Stipendium für das westliche Ausland an. Europa – für ihn „ein Synonym für Paradies und Freiheit“.

Jorge González mit seinem Vater Gudelio  | © CC0

Der Plan ging auf. Viel wichtiger als das Studienfach war ihm jedoch der Studienplatz. Er bekam eine Liste, die auf der linken Seite die Studiengänge aufführte und rechts die Studienorte. „Ich habe die linke Seite zugehalten und die Tschechoslowakei gesucht“, so Jorge González. Damit folgte er einer Empfehlung seiner Tante Juana. Obwohl sie Kuba nie verlassen hatte, war diese Verwandte für ihn einfach „die Enzyklopädie“. Sie malte ihm „ein verlockend schönes Bild von Prag, vom geheimnisvollen Goldenen Gässchen mit seinen märchenhaften Häusern an der Innenmauer der Prager Burg.“ Diesen Kafka habe sie so oft erwähnt, „dass ich schon dachte, er sei ein Onkel von mir.“

Weil er nur dorthin wollte, kamen Fächer wie Mode oder Journalismus nicht infrage, denn dafür hätte er in die UdSSR gehen müssen. Jorge González entschied sich für Nuklear-Ökologie. Dieses Fach prüft, wie sich radioaktive Strahlung auf die Umwelt auswirkt. „Dafür werden ganz unterschiedliche Dinge untersucht, Tiere ebenso wie Menschen, und ihre Strahlung gemessen. So können wir kontrollieren, wo sie besonders hohen radioaktiven Strahlungen ausgesetzt sind“, präzisierte er später in einem Interview.

González setzte sich unter mehr als 800 Bewerbern für lediglich vier Auslandsplätze durch. Das Thema interessierte ihn auch deshalb, weil er in Cienfuegos beobachtet hatte, wie Kuba seit 1982 einen Reaktor nach dem Tschernobyl-Vorbild baute. Vier Jahre später ereignete sich die Katastrophe in der Ukraine.

Ende August 1985 reiste er in die Tschechoslowakei, kam in Prag an – und fuhr gleich nach Bratislava weiter. Nach einem Intensiv-Sprachkurs begann er sein Studium an der Comenius-Universität. „Dieses Fach würde man mir nicht zutrauen, oder!?“, scherzt Jorge González noch heute, wenn man ihn darauf anspricht. Das erste Jahr in der Tschechoslowakei nennt er „so wichtig, weil ich viel über andere Mentalitäten und Kulturen lernte.“

González empfand sich selbst „wie ein Anarchist“. Es gab für ihn „keine Regeln mehr von außen.“ Alsbald richtete er einen ersten Blick nach Prag, obwohl große Probleme drohten, wenn er ohne Abmeldung in die Hauptstadt fuhr. Dort war er erstmals in einer Gay-Disco. Denn anders als in seiner Heimat wurde „Homosexualität in der Tschechoslowakei grundsätzlich akzeptiert“.

Schon als Kleinkind entdeckte er High Heels seiner Mutter und Großmutter im Schlafzimmer seiner Eltern, erzählt der Strahlemann mit den langen glatten pechschwarzen Haaren und dem extravaganten Glitzer-Outfit. Sie wurden erst zu seinem Lieblingsspielzeug und später zu einem Markenzeichen seines Erfolgs. Keiner beherrscht den sicheren Gang auf 18 Zentimeter hohen Absätzen wie er, zumindest kein Mann. Hoch, höher, Jorge!

Jorge González beim SWR New Pop Festival 2017  | © Harald Krichel, CC BY-SA 4.0

Beruflich genutzt hat er diese Vorliebe zuerst in der ČSSR. Weil er in der Uni-Disco auffällig gut tanzte und wegen seines exotischen Aussehens wurde der Kubaner von einer Agentur in Bratislava gecastet. Sie suchte Tänzer für die Show eines „berühmten tschechoslowakischen Sängers“, wie González in seinem Buch „Hola Chicas!“ festhält. Chica ist das spanische Wort für Mädchen und wird von Jorge González so oft verwendet wie seine hochhackigen Schuhe.

Doch die Mädchen plagten sich mit den hohen Schuhen. „Chicas, das kann doch nicht so schwer sein“, mokierte sich der Gast aus der Karibik und forderte: „Gebt mir ein Paar High Heels, ich will das selbst probieren.“ Von da an arbeitete er häufig als Model, Choreograf und Catwalk-Trainer. „Ich zeigte den Models, wie man sich sexy bewegt, ohne vulgär zu wirken, und wie man die Hüften schwingt“, beschreibt er diesen Job.

Von seinem Verdienst flog er immer wieder nach Prag, besuchte Ballett, Oper und Diskotheken, Bars und Restaurants. Die Agentur, für die er arbeitete, befand sich im Kulturinstitut von Bratislava, deshalb traf er dort immer wieder auf Theaterleute. Einige von ihnen unterstützten Václav Havel. González spürte, dass „es unter der Oberfläche gärte“. Den bevorstehenden Systemwechsel erahnte er nicht.

Aber er war mittendrin, als tausende Menschen am 17. November 1989 in Prag demonstrierten. Schon am nächsten Tag teilten ihm seine kubanischen Betreuer in Bratislava mit: „Ab heute ist das tschechoslowakische Volk unser Feind.“ Das wollte der Gast-Student nicht akzeptieren. Doch es kam noch schlimmer. Staatschef Fidel Castro befahl, alle kubanischen Studenten aus Europa zurückzuholen. Das kam für González schon gar nicht infrage. „Ich wollte keine Marionette mehr sein“, beschloss er, „es reichte, dass man mir schon die ersten 17 Jahre meines Lebens schwer gemacht hatte.“

Die folgenden Monate verliefen für ihn dramatisch. Jorge González bekam die Chance, einen Werbespot für Coca-Cola zu drehen, den ersten in der neuen Republik. Dafür musste er einen Lambada vor der Kamera tanzen. Arbeit war kubanischen Studenten allerdings verboten. Und dann noch für Coca-Cola, den kapitalistischen Feind schlechthin …

Nachdem der Spot gesendet worden war, luden ihn Mitarbeiter des kubanischen Konsulats vor. „Ich war jetzt ein Abtrünniger der Revolution“, denkt er zurück. Man präsentierte ihm eine dicke Akte mit zahlreichen Fotos, die seine Überwachung in Bratislava und Prag dokumentierten. Im März 1990 wurde ein Tribunal über ihn veranstaltet. Seinen Reisepass hatte das Konsulat bereits eingezogen.

González rechtfertigte sich für sein Verhalten, sollte aber unverzüglich abgeführt und wenige Tage später nach Kuba geschickt werden. Doch er hatte sich vorbereitet. Mehr als 60 Freunde aus vielen Ländern warteten vor dem Ausgang und nahmen ihn mit. Eine slowakische Familie wollte ihn adoptieren, damit er im Land bleiben konnte, was aber scheiterte.

Danach musste er vier Monate lang untertauchen, zog von Haus zu Haus, wohnte mal bei diesem Freund und mal bei einem anderen. Freundinnen holten zuvor noch seinen Koffer aus dem Wohnheim, erwischten in der Eile jedoch den falschen, weshalb all seine Ersparnisse futsch waren. So besaß er nicht viel mehr als die Kleidung, die er anhatte. „Ich musste bei Null anfangen“, fasst er zusammen. Schließlich erhielt er als einer der Ersten politisches Asyl in der neuen Republik.

Jorge González mit Model Monica Ivancan und Creative Director Thomas Hayo beim Deutschen Filmpreis 2012  | © JCS/Lizenz: CC BY-SA 3.0/GFDL

Ohne Stipendium forcierte er seine Arbeit in der Showbranche. Für einen Geschäftsmann, der den ersten Revue-Club im Staat etablieren wollte, schuf Jorge González eine Show in Bratislava nach kubanischem Vorbild. Dafür brachte er Tänzerinnen mehrere Wochen lang Rumba, Mambo und Salsa bei und entwarf eigene Kostüme. Für Mode hatte er sich schon als Kind interessiert, weil sich seine Mutter gerne schick kleidete, bevorzugt im Stil der vierziger Jahre. „Das hat mir sehr gefallen.“

Damit erzielte González einen ersten großen Erfolg. „Die Leute standen Schlange, um Tickets zu bekommen“, blickt er zurück. Bald darauf folgte ein Festival. Dorthin kamen zu seinem Entsetzen auch Leute von der kubanischen Gesandtschaft, einschließlich des Konsuls. Doch 15 muskulöse Sportstudenten schirmten ihn ab, ein lokaler Fernsehsender drohte, seine Verfolgung mit der Kamera festzuhalten.

So beendete er im November 1991 sein Studium mit Diplom und ohne weitere Einschränkungen. „Als einziger diplomierter Nuklearökologe Kubas“, wie er mit gewisser Ironie vermerkt. Jedoch ohne berufliche Aussichten. Denn im sensiblen Bereich der Atomenergie fand der Kubaner im Westen keinen Job, nach Kuba konnte er „als Konterrevolutionär“ nicht mehr zurück. Also konzipierte González als nächstes eine Striptease-Show. „Jeder Nachtclub, jedes Hotel“ wollte das Vergnügen buchen, das die kommunistischen Machthaber ihren Bürgern vorenthalten hatten.

Schließlich der Durchbruch. Jorge González lernte einen italienischen Designer kennen, der ein Modelabel im Land etablieren wollte. Prag wurde nun zum Mittelpunkt seines Lebens. „Die Stadt war damals pure Energie, denn die Menschen kosteten ihre neu gewonnene Freiheit aus“, erinnert er in seiner Biografie. Er leitete die Firma, suchte Fabriken für die Produktion, überwachte die Herstellung der Kollektionen, vertrieb die Mode im gesamten Land. Daneben jobbte er weiterhin als Model oder Stylist und organisierte für Olga Havlová, die Frau des Präsidenten, Charity-Modeshows. Sein Name tauchte erstmals in Klatschspalten auf.

Dies sprach sich bis Kuba herum. Eine Kubanerin, die mit einem Tschechen verheiratet war, brachte ein Modemagazin mit in den Heimaturlaub. Am Strand erzählte sie Jorges Tante, dass deren Neffe nicht nur in Prag erfolgreich in der Modebranche arbeitet – sondern vor allem, dass er überhaupt noch lebt. Denn noch immer waren alle Verbindungen zwischen González und seiner Familie in Kuba vom Staat gekappt. Bis Oktober 1997 blieb ihm seine Heimat versperrt, mehr als acht Jahre lang. Erst dann konnte er seine Verwandten wiedersehen.

Ende 1991 kam er erstmals nach Deutschland. Freunde in Prag hatten ihn gewarnt: „Die Deutschen sind so kühl, haben keinen Humor, lachen nicht.“ Jorge González wollte sich selbst eine Meinung bilden. Und entschied, ab 1994 dauerhaft zu bleiben. Der vielseitige Künstler ging nach Hamburg, wurde von internationalen Designern als Stylist für Kampagnen und als Choreograf für Modenschauen engagiert.

Jorge González mit Motsi Mabuse. Beide sitzen seit vielen Jahren in der Jury der TV-Show "Let's Dance".  | © CC0

Die Arbeit für angesagte Modehäuser machte ihn für Prominente wie Barbara Becker und Esther Schweins interessant, die sich von ihm beraten ließen. Daraufhin gelang ihm der Sprung ins Fernsehen. In der Casting-Show „Germany’s Next Topmodel“ coachte er die Kandidatinnen bei Heidi Klum. Stefan Raab lud ihn regelmäßig in seine Late-Night-Show „TV Total“ ein. Seine fröhliche und exzentrische Art machte ihn bundesweit bekannt. Er brachte eine eigene Mode-Kollektion unter dem Namen „Chicas Walk“ heraus und besang Singles.

Seinen anhaltenden Erfolg erklärt er mittlerweile damit, dass er sehr offen sei. „Das mögen die Leute“, glaubt González, „sie können mich einordnen, auch weil ich offen mit meinem Lebensstil umgehe und kein Geheimnis daraus mache, dass ich schwul bin.“ Dass er für andere lediglich der schrille Paradiesvogel mit dem gebrochenen Deutsch ist, belastet ihn wenig. „Ich bin eine Person mit verschiedenen Talenten und interessiere mich privat auch für ganz andere Dinge wie Kunst und Politik.“ Neben der medialen Figur gebe es eben auch den Jorge, der was im Kopf habe.

Seit 2013 ist Jorge González Juror in der RTL-Tanzshow. Tanzen sei einfach seine Leidenschaft, bekundet er in seinem Buch. Mit einer Partnerin habe er schon für Schulwettbewerbe „richtig akrobatische Nummern“ eingeübt. Zudem bekämen Kinder in Kuba „den Rhythmus schon im Bauch der Mutter mit.“ Bis zur Siegerehrung bei „Let’s Dance“ hat González noch ein paar Sendungen Gelegenheit, um zu verkünden: „Das hat mir gut gefaaalen!“