Herablassendes Schulterklopfen

Herablassendes Schulterklopfen

Wie Rainer Maria Rilke zu seinen böhmischen Wurzeln und den Tschechen stand

6. 2. 2014 - Text: Nina MoneckeText: Nina Monecke; Bild: APZ

 

Rainer Maria Rilke zählt ohne Zweifel zu den bekanntesten deutschsprachigen Literaten böhmischer Herkunft. Der gebürtige Prager, der auf den Namen René getauft wurde, war das lyrische Vorbild zahlreicher ihm nachfolgender Dichter. So bereicherte er die hiesige Literaturszene und verschaffte ihr internationale Aufmerksamkeit. Sowohl für den „Prager Kreis“ um Franz Kafka und Max Brod als auch für die von Paul Leppin begründete „Frühlingsgeneration“ war er Wegbereiter und Tor zum literarischen Rest der Welt. Dennoch wurden bisher große Teile seines Werks der Tschechisch sprechenden Bevölkerung nicht zugänglich gemacht.

Nun sind im Prager Labyrint Verlag die ersten zwei Bände einer neuen dreibändigen Auflage erschienen, die über 200 weniger bekannte Gedichte des Klassikers der modernen Poesie sowie einige Prosatexte erstmalig auch in tschechischer Sprache präsentiert. Wie der Dichter selbst zu seinen böhmischen Wurzeln und seiner Heimatstadt Prag stand, darüber geben einige seiner Texte Auskunft.

Rilke kam 1875 in bescheidenen Verhältnissen zur Welt. Der Vater war nach missglückter Militärkarriere Bahnbeamter, die Mutter eine großspurige Frau aus gutem Hause. Unter beiden Elternteilen litt der kleine René, genauso wie die Ehe, welche 1884 zerbrach. So wurde der Junge mit zartem Gemüt von der Mutter nach dem Kindstod der älteren Schwester in die Rolle der Ersatztochter gedrängt. Frühe Fotoaufnahmen zeigen Rilke im Kleidchen und mit langem Haar. Ob dies nun auf seelischen Schmerz zurückzuführen ist oder der mütterliche Beschützer-Instinkt angesichts der harten Männergesellschaft in Sophie Entz aufflammte, bleibt spekulativ. In der Tat litt René jedoch später unter dem strengen Regiment der Militärrealschule in St. Pölten.

In einem seiner späteren Gedichte von 1915 resümierte Rilke: „Da hab ich Stein auf Stein zu mir gelegt und stand schon wie ein kleines Haus. Nun kommt die Mutter, kommt und reißt mich ein.“ Sie habe als Einzige sein wahres Gesicht nicht erkannt.

Aus René wird Rainer
Durch die unglückliche Kindheit bedingt oder nicht: Rilke hatte bis zu seinem Tod 1926 ein ambivalentes Verhältnis zu Prag. So zog es ihn zwar stetig ins Ausland, doch vor allem in seinen frühen Werken wandte er sich immer wieder der böhmischen Metropole zu. Insbesondere der Gedichtband „Larenopfer“ widmet sich ausführlich seiner Heimatstadt. Seine Bedeutung für den Prager Literaturbetrieb aber auch seine Beeinflussung durch die lyrische Tradition Prags ist beträchtlich. Es heißt, die schönsten Gedichte über Prag habe Rilke geschrieben, sagt Lucie Černohousová, die ehemalige Leiterin des Prager Literaturhauses deutschsprachiger Autoren.

Zum Studium der Philosophie ging Rilke nach München, wo er auf Lou Andreas-Salomé traf. Sie wurde für ihn Geliebte, mütterliche Vertraute und intellektuelle Inspiration. Unter ihrem Einfluss änderte er seinen Namen von René zu Rainer, wandte sich der Philosophie Nietzsches und Freuds zu und reiste 1899 und 1900 nach Russland.

Nach seiner Heimkehr ließ er sich kurzzeitig in der damaligen Künstlerkolonie Worpswede nahe Bremen nieder, wo er seine spätere Frau Clara Westhoff kennenlernte. Ein enges Familienleben lehnte der rastlose Rilke aber ab. Trotz gemeinsamer Tochter wollte er sich nicht an einen festen Ort binden. Stattdessen arbeitete er in den darauffolgenden Jahren in Paris unter dem Künstler Auguste Rodin.

Kosmopolit ohne Heimat
Eine innere Unruhe hielt den deutschsprachigen Künstler stets auf Trab. Seiner Heimatstadt Prag kehrte er dabei den Rücken. Den Begriff Heimatstadt hätte Rilke wahrscheinlich selbst so auch nie gewählt. Vielmehr umgab ihn die typische Heimatlosigkeit des kosmopolitischen Künstlertums. Rilke äußerte sich einst zum Thema wie folgt: „Nur werden wir nicht in unsere Heimat geboren, und mir scheint sogar, als ob alles Große immer aus diesem Verlangen gekommen wäre, sie irgendwo zu finden.“ So sah er vielmehr in der Suche nach diesem Gefühl andernorts seine Inspiration und das Potential seines Schaffens.

Im Vorwort seiner Erzählungen „Zwei Prager Geschichten“, welche um 1897 entstanden, schrieb Rilke rückblickend: „Dieses Buch ist lauter Vergangenheit. Heimat und Kindheit – beide längst fern – sind sein Hintergrund. Ich würde es heute nicht so, und darum wohl überhaupt nicht geschrieben haben. Aber damals als ich es schrieb, war es mir notwendig. Es hat mir Halbvergessenes lieb gemacht und mich damit beschenkt.“

Dass Rilke seine eigenen Texte im Nachhinein kritisierte, war nichts Ungewöhnliches. In diesem Zitat spiegelt sich jedoch auch die Tatsache wider, dass Rilke Prag, wenn er es überhaupt je als Heimat begriffen hatte, bewusst und mit gutem Gewissen hinter sich gelassen hat. Aus der Retrospektive – das Vorwort schrieb er zwei Jahre nach den beiden Erzählungen – erschienen ihm die Texte gar überflüssig und die Erinnerungen zwar lieb, aber nicht mehr erwähnenswert.

Die „Zwei Prager Geschichten“ stünden damit im Zeichen des Abschieds, der Absage und der Abrechnung, glaubt der böhmische Philosoph Jaromír Loužil, der sich unter anderem mit der deutsch-tschechischen Literaturgeschichte auseinandersetzte.
In den zwei besagten Prager Geschichten „König Bohusch“ und „Die Geschwister“ blitzen auch Gedanken Rilkes zum Verhältnis von Deutschen und Tschechen auf. Insbesondere in der zweiten Erzählung wird der Nationalitätenkonflikt aufgegriffen.

Mangelnde Kenntnis
Rilke distanziert sich von dem Vorwurf, die Deutschen seien für das Elend der Tschechen verantwortlich. Die Gründe lägen stattdessen in der verspäteten sozialen und kulturellen Entwicklung des böhmischen Volkes. Sein Bild von den Tschechen trägt somit keine Züge eines Nationalismus im klassischen Wortsinn oder gar der Vorstellung eines unüberwindbaren Antagonismus ethnischer Prägung. Vielmehr seien es die Diskrepanzen im Heranwachsen der beiden Völker, die zu einer Hierarchie führten, meint der Dichter. Seine Figur des Tschechen Rezek, welche in beiden Geschichten auftritt, formuliert es wie folgt: „Nicht, dass wir uns mit den Deutschen die Heimat teilen müssen, ist unser Groll, aber dass wir unter einem so erwachsenen Volk groß werden, macht uns traurig. Es ist die Geschichte von dem Kinde, welches unter Alten heranwächst.“

Deutsche und Tschechen bewegten sich demnach auf unterschiedlichen Entwicklungsniveaus. Die Tschechen müssten lediglich auf das „natürliche Wachstum“ vertrauen. Wobei zu bedenken bleibe, dass die Völker dadurch nicht zwingend Gleichberechtigung erfahren. Einen hoffnungsvollen Ausblick gibt der Charakter Luisa in „Die Geschwister“. Sie durchlebt den zuvor erwähnten Prozess des Erwachsenwerdens und bemüht sich um die Völkerverständigung. Im tatsächlichen Leben tobte zu dieser Zeit jedoch der Sprachenkampf umso erbitterter. Auch entspricht Luisa dem typischen Bild der Tschechen in Rilkes Werken: Sie ist Teil des einfachen armen Volkes, welches kindisch, melancholisch und unmündig ist. Vertreter des Bürgertums, welche im ausgehenden 19. Jahrhundert bereits eine wichtige gesellschaftliche Rolle einnahmen, kommen nicht vor.

Auch die damalige tschechische Emanzipationsbewegung thematisiert Rilke nicht. Stattdessen kritisiert er die tschechische Intelligenz, die sich die Aufklärung des Volkes zur Aufgabe machte. Sie selbst habe sich überhastet und nach französischen Maßstäben geschaffen und sei so zum Feind ihres eigenen Landes geworden.

Rilkes Vorschlag zur Lösung des Konflikts ist eindeutig: Das tschechische Volk solle weiterhin im Rahmen seines bisherigen unverdorbenen Status verfahren.

Eine politische Belebung und Beteiligung der Tschechen sowie etwaige nationale Bestrebungen lehnt er entschieden ab. Das ist nicht die einzige eigenwillige politische Ansicht des deutschsprachigen Lyrikers, der auch offen den italienischen Faschismus unter Benito Mussolini lobte. Der tschechische Literaturforscher und Übersetzer Václav Černý definierte Rilkes Haltung als „Tschechenfreundlichkeit mit einer Art herablassendem Schulterklopfen.“ So seien ihm die Tschechen zwar durchaus sympathisch gewesen, doch verortete er sie nichtsdestotrotz im unbewussten Proletariat.

Erst in der nächsten deutschsprachigen literarischen Generation bemühten sich einige Künstler verstärkt um die Annäherung von Deutschen und Tschechen. Insbesondere der jüdische Schriftsteller Max Brod, der vor allem für die Veröffentlichung des Kafka-Nachlasses bekannt ist, trug wie kaum ein anderer zur Herausstellung der Gemeinsamkeiten und besseren Verständigung der beiden Völker bei. Im Gegensatz zu Rilke sprach Brod neben Deutsch auch fließend Tschechisch. Er kritisierte seinen Wegbereiter Rilke für dessen mangelnde Sprachkenntnisse entschieden: Das wirkliche tschechische Volk seiner Zeit sei Rilke gar nicht bekannt gewesen.

Rainer Maria Rilke: Neboť hvězd skákalo nespočet/Denn es sprangen Sterne ungezählt. Deutsch-tschechische Ausgabe. Labyrint Verlang 2013, 320 Seiten, 345 Kronen, ISBN 978-80-87260-47-0

Rainer Maria Rilke: Tichý doprovod a jiné prózy. Labyrint Verlag 2014, 344 Seiten, 345 Kronen , ISBN 978-80-87260-48-7

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