„Glücklich bis zur letzten Stunde“

„Glücklich bis zur letzten Stunde“

Im Zweiten Weltkrieg half der einstige Opernstar Marianne Golz-Goldlust verfolgten Prager Juden bei der Flucht – und wurde dafür zum Tode verurteilt

7. 9. 2016 - Text: Helge HommersText: Helge Hommers; Foto: Goesseln/CC BY-SA 3.0 und Yad Vashem

Marinnne Golz-Goldlust sitzt in ihrer Zelle im Gestapo-Gefängnis Pankrác und schreibt einen Brief. Sie weiß, dass es die letzten Zeilen sind, die sie am 5. Oktober 1943 an ihre Schwester verfasst. Fünf Monate zuvor hatte das Sondergericht Prag die 48-Jährige wegen der „Begünstigung von Reichsfeinden“ als „Saboteurin“ zum Tode verurteilt. „Liebes Rosilein! hier nun mein letzter Gruß. Ich kann Dir nur mitteilen, daß ich das Spiel ums Überleben verloren habe. Ich werde versuchen als Heldin abzutreten. Weine nicht! Das Sterben ist hier etwas alltäg­liches. Das Leben war bis auf die letzten zwei Stunden schön. Bis zum letzten Augenblick hatten mich hier alle lieb. Bis zum letzten Augenblick war ich glücklich“, schreibt sie. Drei Tage später wird Marianne zu ihrer Hinrichtung gebracht. Zwischen ihrer Übergabe an den Scharfrichter und der Urteilsvoll­streckung vergehen nur neun Sekunden – „ganz ohne Zwischenfall“, wie es im Bericht an den Generalstaatsanwalt später heißt.

Geboren wird Marianne im Jahr 1895 als Maria Agnes Belokosztolszky im Wien der k.u.k.-Monarchie. Ihre tschechische Mutter und ihr polnischer Vater erziehen sie katholisch und dem Kaiser treu ergeben. Sie lassen der musisch begabten Tochter viele Freiheiten und fördern ihre künstlerische Ader. Nach dem Abitur beginnt sie eine Ausbildung zur Sängerin und Tänzerin. Da Marianne ihr Geburtsname zu lang erscheint und sie es leid ist, diesen immer wieder zu buchstabieren, legt sie sich den Künstlernamen Tolska zu. Erste Erfolge feiert sie als Opernsängerin in Linz und Stuttgart. Obwohl erst Mitte 20, verkörpert sie ausschließlich ältere Figuren, da sie sich ihren eigenen Worten zufolge „gar nicht so jung“ fühlt. Ab 1922 engagiert sie das Salzburger Stadttheater als festes Ensemblemitglied. Bereits ein Jahr darauf steht sie mit dem Operettenstar Richard Tauber in Johann Strauss’ „Die Fledermaus“ auf der Bühne und wird zur gefeierten Künstlerin.

Wenig später kehrt sie ihrer Heimat den Rücken und zieht nach Berlin. Marianne gefällt das Leben in der Millionenstadt und sie lädt zahlreiche Persönlichkeiten aus der Theater- und Werbe­branche in ihre Wohnung ein. Bei einem der Treffen lernt sie den sieben Jahre jüngeren Journalisten Hans Werner Goldlust kennen. Der assimilierte Jude nennt sich jedoch Golz, um antisemitischen Anfeindungen zu entgehen. Aus der Namensänderung entstand der offizielle Nachname „Golz-Goldlust“, den Marianne nach der Heirat 1929 übernimmt. Zwischenzeitlich ist Hans zum Geschäftsführer der Zeitschrift „Literarische Welt“ ernannt worden und pflegt – auch dank seiner beliebten Frau – Kontakte zu Autoren wie Bertolt Brecht und Walter Benjamin.  

Nach Hitlers Machtergreifung verkauft das Paar seinen Besitz und emigriert im März 1933 nach Prag. Während Hans für französische und österreichische Zeitungen schreibt, setzt sich Marianne für geflohene Juden und politisch Verfolgte ein. Als die Nationalsozialisten die „Rest-Tschechei“ besetzen, flieht Hans in letzter Minute nach Polen und von dort nach England. Marianne hingegen bleibt, obwohl sie gültige Ausreisepapiere besitzt, und kümmert sich um Hans’ ebenfalls nach Prag geflohene Familie.

In Berlin lernte sie Hans Werner Goldlust kennen.

Widerstand gegen das Reich
Bereits vor Kriegsbeginn engagiert sie sich in einer Widerstandsgruppe, die gefälschte Pässe und Reisedokumente für Juden besorgt. Zudem schickt Marianne das Geldvermögen einiger Verfolgter an ihre Schwester nach Wien, damit sie es nach erfolgreicher Flucht in Empfang nehmen können. Geplant werden die Aktionen bei „kulturellen Gesellschaften“, die alle zwei Wochen in Mariannes Wohnung stattfinden. Später wird in der Anklageschrift stehen, dass bei den Versammlungen „mit allen Mitteln gegen das Reich gehetzt wurde“.

Das Treffen vom 19. November 1942 wird der Gestapo verraten. Mit einem „Auf Sie haben wir ja schon gewartet“ betritt sie Mariannes Wohnung und nimmt alle Anwesenden fest. Informantin war eine Frau namens Evzenie Synek – eine Jüdin, die als sogenannte „Greiferin“ der Gestapo fungiert. Marianne nimmt während der brutalen Verhöre alle Verantwortung auf sich und entlastet so einige Verdächtige, die – obwohl nach NS-Ansicht eigentlich „schuldig“ – freigelassen werden.

Das Verfahren gegen Marianne wird im Mai 1943 und damit zum denkbar schlimmsten Zeitpunkt eröffnet. Denn kurz zuvor verlor Nazideutschland die Schlacht um Stalingrad. Widerstand soll fortan mit allen Mitteln unterbunden werden, was die Justiz zum Anlass nimmt, willkürlich Todesurteile auszusprechen. Dennoch rechnet Marianne bis zur Urteilsverkündung mit einer milden Strafe – sie irrt sich. Und auch ihr Gnaden­gesuch wird von dem Oberstaatsanwalt Franz Ludwig mit der Empfehlung, vom „Gnadenrecht keinen Gebrauch zu machen und der Gerechtigkeit freien Lauf zu lassen“ abgelehnt. Marianne antwortet ihm in einem Brief, er solle erwägen, „wegen solcher Dinge (…) zum Mörder zu werden. Denn das sind Sie: ein Mörder am laufenden Band und noch dazu ein Frauenmörder“.

Fünf Monate sitzt Marianne in Haft und wartet. Sie weiß, dass die Hinrichtungen immer freitags durchgeführt werden. Jeden Donnerstag, den die Gefangen ohne Nachricht vom baldigen Tod überstehen, betrachten sie als Hoffnungsschwimmer: „So haben wir acht Tage Ruhe vor dem Beil, wir können noch acht Tage leben, noch die Sonne sehen, essen, weinen, lachen, singen, über die Liebe schreiben, über die Hoffnung“, schreibt Marianne in einem der zahlreichen Briefe, die aus Pankrác geschmuggelt werden.   

Sie erlebt, wie viele ihrer Mitgefangenen kommen und gehen. Jedes Mal sucht sie eine Rechtfertigung für den Mord – und findet sie nicht. In einem ihrer Briefe schildert sie, wie sie den Tag der Vollstreckung zweier Zellen­genossinnen erlebt: „Beide sind am ,Großen Tag‘ blass und nervös (…) Sie waschen sich gründlich. Sauberkeit ist eine Pflicht für jede (…) Wir sagen zu Rosa, diesem ausgeweinten Kind: ,Mädchen sei stark!‘ Aber die Arme weint schrecklich und sagt: ,Ich bin nicht stark. Ich habe doch nichts getan!‘ (…) Die Tür öffnet sich, Rosa schreit: ,Ich gehe nicht, ich gehe nicht!‘ (…) dann geht sie doch, ein wehrloses Tier, das zum Abschlachten geführt wird.“

Ein letztes Mal lieben
Die Hoffnung, ihr Schicksal abzuwenden, gibt Marianne schnell auf. Sie will ein letztes Mal lieben und beginnt eine Brief-Liebschaft mit dem Gefangenen Richard Macha, dem sie schreibt: „Das Glück hatte ich in reichem Maße, aber Unglück, das gab es nur in diesem Jahr.“

Sie beschließt, lieber durch die eigenen Hände zu sterben als durch die der Nazis. Am Morgen ihrer Hinrichtung schluckt sie Giftpillen, die sie ins Gefängnis schmuggeln ließ. Doch sie verliert nur die Besinnung, was für die Vollstrecker keinen Unterschied macht: Sie bringen Marianne zur Hinrichtungsstätte, wo das Urteil vollstreckt wird. Ganz so, wie sie es zuvor in einem ihrer Briefe schilderte, allerdings ohne noch einmal das Bewusstsein erlangt zu haben: „Wir hören, wie sich das Tor der Vorbereitungsstelle öffnet, dann der Schritt des Henkers zur Tür; seine Helfer packen das Opfer, werfen es auf die Holzbank (…) Dann tragen sie den Körper ohne Kopf weg.“  

Im Jahr 1988 verleiht die Gedenkstätte Yad Vashem Marianne postum die Medaille als „Gerechte unter den Völkern“ – die höchste Auszeichnung, die der Staat Israel an Nicht-Juden vergibt. Zu ihren Ehren blüht seitdem ein Baum im Olivenhain der Gedenkstätte und erinnert an ihren beispiellosen Mut. Ebenso der 1947 geborene Ronnie Golz, dessen Vater Hans in London eine geflüchtete Jüdin heiratete. Ronnie veröffentlichte nach dem Tode seines Vaters die Briefe dessen erster Frau unter dem Titel „Ich war glücklich bis zur letzten Stunde – Marianne Golz-Goldlust 1895–1943“.

Nur einer der beiden an ihrem Schauprozess beteiligten Juristen wird nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs für seine Taten belangt: Das Volksgericht in Prag veruteilt den Staatsanwalt Wolfgang von Zeynek 1948 zu 15 Jahren Haft. Er wird jedoch bereits nach sieben Jahren in die BRD entlassen und 1959 bei einem gegen ihn gerichteten Ermittlungsverfahren freigesprochen – der Richter betrachtete die Anzeige als ein „kommunistisch gelenktes Störmanöver“. Von Zeynek setzt seinen Laufbahn unbehelligt fort und wird zum Landgerichtsrat ernannt.

Der Oberstaatsanwalt Ludwig, der Golz’ Gnadengesuch abgelehnt und die Todesstrafe empfohlen hatte, wird nie vor ein Gericht gestellt. Er ist ab 1946 wieder als Staatsanwalt tätig und wird 1961 pensioniert. Bei nachweislich 77 Todesurteilen stellte er den Antrag auf Hinrichtung.

Ronnie Golz: Ich war glücklich bis zur letzten Stunde – Marianne Golz-Goldlust 1895–1943. Berliner Taschenbuch-Verlag, Berlin 2004, 288 Seiten, 9,90 Euro, ISBN 3-8333-0125-2