Für die Wissenschaft

Für die Wissenschaft

Die schönsten Aussichten auf die Stadt – Teil 7: Der Astronomische Turm des Klementinums

25. 11. 2016 - Text: Josef FüllenbachText und Fotos: Josef Füllenbach

Ab Mai 1891 bis Februar 1926 – die Kriegsjahre ausgenommen – wurde jeden Tag die genaue Mittagszeit pünktlich mit einem Böllerschuss vom Letná-Hügel hoch über Prag angezeigt. Wenn sich die Mittagsstunde näherte, schauten die Böllerschützen, nachdem sie die Kanone mit der vorgeschriebenen Schwarzpulverladung in Stellung gebracht hatten, angestrengt Richtung Altstadt. Denn von dort erwarteten sie das Zeichen, dass die Mittagsstunde geschlagen hatte. Dieses Signal gab zuverlässig ein Angestellter der Sternwarte, die seit dem 18. Jahrhundert im Astronomischen Turm des Klementinums untergebracht war. Dazu trat er auf die Galerie hinaus, die das letzte Stockwerk des Turms umgibt, und schwenkte eine weithin sichtbare rot-weiße Fahne. Und dann krachte auch schon der Böller. Damals war der Verkehrslärm noch gering und die Stadt nicht so ausgedehnt wie heute, so dass der Schuss überall in Prag gut zu hören war.

Der Turm ist heute noch erhalten. Die Ansicht, die sich dem Betrachter auf der Galerie in 52 Metern Höhe bietet, gilt als eine der schönsten von Prag. Man steht hoch genug, um über die Dächer der historischen Stadtteile hinwegschauen zu können. Und gleichzeitig befindet man sich auch nicht zu hoch über der Stadt: Die zahlreichen Türme ragen aus dem Dächermeer heraus und bestätigen mit ihren vergoldeten Spitzen und Verzierungen die Rede von Prag als der „hundert­türmigen goldenen Stadt“.

Den Astronomischen Turm schmückt eine Atlas-Figur.

Schimmel, Motten, Jesuiten
Der Astronomische Turm entstand vor nahezu 300 Jahren (1722) als Teil der im Barockstil durchgeführten grundlegenden Neugestaltung des Jesuitenkollegs. Die damals seit 1653/54 bis in die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts dauernden Bauarbeiten ließen das Klementinum – die heutige Tschechische Nationalbibliothek – in seiner im Wesentlichen bis heute bewahrten Gestalt entstehen. Es stellt den nach dem Hradschin zweitgrößten Gebäudekomplex des alten Prag dar.

Von alters her war dieses Areal ein Ort des Lernens und der Wissenschaft. Ab 1232 hatten sich die Dominikaner um eine bescheidene romanische Kirche angesiedelt, die dem heiligen Clemens geweiht war, dem Namensgeber des späteren Klementinums. In ihrem Kloster pflegten sie ein Studium generale, das Mitte des 14. Jahrhunderts zu einer Art Vorstufe der 1348 von Karl IV. gegründeten Universität wurde.
Die Dominikaner hatten auch die Aufgabe, Ketzer aufzuspüren und abzuurteilen. Deshalb zerstörten die Hussiten 1420, zu Beginn der Hussitenkriege, das Kloster als Sitz der Inquisition. Später kehrten die Dominikaner zurück, aber ein Wiederaufbau des Klosters überstieg ihre Kräfte. Nach einigen Jahrzehnten notdürftigen Betriebs mussten sie 1556 das Gelände verlassen, das nun dem aufstrebenden, erst 1534 gegründeten Jesuitenorden zugesprochen wurde, der dem Katholizismus in Böhmen wieder zu alter Blüte verhelfen sollte. Dabei machte er auch vor Bücherverbrennungen nicht halt, was später den Publizisten Karel Havlíček Borovský reimen ließ: „Böhmens Bücher schrecklich litten / unter Schimmel, Motten, Jesuiten.“

Andererseits bauten die Jesuiten ihre Niederlassung in Prag zu einer weithin anerkannten Stätte der höheren Bildung aus, auch um ein Gegengewicht zu der utraquistischen Prager Universität zu schaffen. Angeblich bewältigten die Zöglinge im Klementinum in drei Monaten den Stoff, für den die Schüler in den protestantischen Einrichtungen zwei Jahre benötigten. 1616 verlieh Kaiser Matthias dem Jesuitenkolleg den Status einer Hochschule mit dem Recht zur Verleihung akademischer Titel. Der Aufstand der protestantischen böhmischen Stände vom Mai 1618 brachte es mit sich, dass die Jesuiten des Landes verwiesen wurden. Doch kehrten sie bald wieder zurück: Schon Anfang 1621 nahmen sie den Lehrbetrieb im Klementinum wieder auf.

Im Innenhof des Klementinums erinnert ein Denkmal an Josef Stepling.

Im Rückblick gelten die Jesuiten den Tschechen vor allem als finstere Gesellen, die bei der Unterdrückung der Reformation und des Tschechentums nach 1620 eine unrühmliche Rolle spielten. Doch wird ihr positives Wirken heute nicht mehr unterschlagen. Dazu zählt neben den unbestreitbaren Leistungen in Bildung und Wissenschaft auch der Beitrag der Jesuiten zur Erneuerung der tschechischen Sprache. 1648 halfen viele Jesuiten und ihre Studenten aus dem Klementinum dabei, den Ansturm der Schweden auf die Altstadt abzuwehren. Dabei zeichnete sich der von den Schweden als „langer Pater“ titulierte Professor Jiří Plachý durch „seine Unerschrockenheit, Tatkraft und Beredsamkeit“ vor allen anderen aus.

Im 17. und 18. Jahrhundert befasste sich in den böhmischen Ländern außer den Jesuiten niemand systematisch mit Naturwissenschaften. Die Astronomie bildete einen wichtigen Bestandteil der „jesuitischen Mathematik“. Das warf auch ideologische Probleme auf, denn das kopernikanische heliozentrische System galt der Kirche als ketzerisch. Einige Lehrer im Klementinum gingen dem Konflikt aus dem Weg, indem sie die kopernikanische Lehre als „eines von mehreren Modellen“ in den Unterricht einbezogen. Auch wandten sie sich ideologisch „neutralen“ Themen zu, etwa dem Bau von Sonnenuhren. Anleitungen zu ihrer Konstruktion finden sich in vielen Handschriften; im Klementinum selbst sind noch 15 Sonnenuhren erhalten.

Meteorologische Messungen
Der bedeutendste Vertreter von Mathematik, Physik und Astronomie im Klementinum war der vor 300 Jahren – am 29. Juni 1716 – in Regensburg geborene Josef Stepling. Nach dem frühen Tod des Vaters zog die Mutter mit dem zweijährigen Sprössling nach Prag, vermutlich zu ihren Eltern. Stepling genoss eine vorzügliche Erziehung im Jesuitengymnasium auf der Kleinseite, ergänzt durch einen Privatlehrer, der in ihm das Interesse für Mathematik und Naturwissenschaften weckte. Schon mit 16 Jahren berechnete er eine bevorstehende Mondfinsternis. Mit 17 Jahren trat er in den Jesuitenorden ein und kam 1748 nach Stationen in Brünn, Olmütz, Glatz, Schweidnitz und Jičín zum Klementinum zurück.

Das Angebot, den Lehrstuhl für Philosophie zu übernehmen, lehnte der 32-Jährige mit den Worten ab, er werde niemandem Lehren aufdrängen, die ihm selbst zuwider seien. Noch war die aristotelische Weltsicht für die Jesuiten bindend. Stattdessen wollte er, der längst ein Anhänger von Newton war, Experimentalphysik lehren. Um dieselbe Zeit begann Stepling, den seit 1722 vor allem als Aussichtspunkt dienenden Turm für wissenschaftliche Zwecke einzurichten. Mit Mitteln des Ordens und aus eigener Erbschaft stattete er den Turm mit zahlreichen wissenschaftlichen Instrumenten aus und schuf so den Astronomischen Turm mit der Sternwarte. Und der um den Fortschritt der Wissenschaften besorgten Maria Theresia ist es zu danken, dass Stepling ab 1753 lange Jahre der einzige Jesuit in der Donaumonarchie war, der als vom Staat bestallter Direktor der mathematischen und physikalischen Studien wirken konnte.

Mit dem Namen Stepling ist auch die Einführung systematischer meteorologischer Messungen verbunden. 1752 begann er den Luftdruck, die Temperatur und die Niederschlagsmengen zu messen; seit dem 1. Januar 1775 finden diese Messungen täglich statt und bilden eine der längsten ununterbrochenen Zeitreihen meteorologischer Aufzeichnungen in Europa. An Josef Stepling erinnert in einem der Innenhöfe des Klementinums ein Denkmal, das Maria Theresia angeregt hat. Mit einer lateinischen Inschrift empfiehlt sie das Beispiel Steplings den Nachgeborenen zur Nachahmung.

Die Sternwarte ist 1928 in neue Gebäude auf dem Laurenziberg umgezogen. Aber viele der historischen Instrumente sind im Turm noch zu besichtigen. Und natürlich dient der Turm wieder, wie in den ersten drei Jahrzehnten seines Bestehens, der schönen Aussicht auf Prag.