Die Angst, unlesbar zu sein

Die Angst, unlesbar zu sein

Am 3. Juni jährt sich der Todestag Franz Kafkas zum 90. Mal. Als deutsch-jüdischer Schriftsteller in Prag stand er gewissermaßen zwischen den Welten. Ein Gespräch mit Germanist Boris Blahak über Kafkas Sprachidentität

28. 5. 2014 - Text: Franziska Benkel

Boris Blahak ist Germanist an der Philosophischen Fakultät der Prager Karls-Universität. In seiner Dissertation beschäftigte er sich mit den deutschen Regionalismen in den literarischen Texten Franz Kafkas. Anlässlich des 90. Todestages des wohl berühmtesten Prager Schriftstellers sprach PZ-Mitarbeiterin Franziska Benkel mit dem Wissenschaftler über Kafkas Sorge um die eigene Sprache, über „Mauscheln“ und „Böhmakeln“ und den Bau der Chinesischen Mauer.

Herr Blahak, welche Rolle spielte die Sprache im Leben Kafkas?

Boris Blahak: Da fällt mir ein Brief vom April 1920 ein. Kafka befand sich zu dieser Zeit in Meran in Südtirol auf Kur und schrieb an Max Brod, dass er im Speisesaal seiner Pension auf eine österreichische Tischgesellschaft getroffen sei. Kafka sei ihr sprachlich direkt aufgefallen. Aufgrund seines Akzents habe ihn die Runde gefragt, woher er komme. Als Kafka „aus Prag“ antwortete, löste dies eine Reihe sofortiger Zuordnungen aus: Ein Tscheche, Kleinseite, Deutsch-Böhme. Genau diesen Gruppen sagte man nach, dass sie ein Deutsch mit tschechischem Akzent sprächen, das sogenannte „Böhmakeln“. Laut einem Brief an seine Schwester hatte auch die Wirtin der Pension drei Tage zuvor sofort sein „Prager Deutsch“ erkannt.

Was bedeutete das für Kafka?

Blahak: Er, der doch selbst Österreicher war, fiel einem österreichischen Publikum durch seine Aussprache auf. Das in Prag von gewissen Gruppen verwendete Deutsch muss sich also vom üblichen „österreichischen Deutsch“ der Monarchie markant unterschieden haben. Aus dieser für ihn unangenehmen Situation redete er sich heraus, indem er seine jüdische Herkunft offenlegte. Das gibt zu denken: Wenn er dies gegenüber einer, wie er sagte „treudeutschen“ Tischgesellschaft tat, dann musste er damit rechnen, dass dies zu ähnlichen, die Sprache betreffenden Assoziationen führte. In antisemitischen Kreisen unterstellte man nämlich, ein Jude könne sich der deutschen Sprache gar nicht authentisch bedienen, weil es eine „geliehene Sprache“ sei.

Nach dem Sprache-Nationen-Verständnis des 19. Jahrhunderts galt: Ein Deutscher spricht Deutsch, ein Tscheche Tschechisch und ein Jude bedient sich irgendeiner Sprache, nachdem er die ursprüngliche Gruppensprache Jiddisch abgelegt hat. Trotz seiner sprachlichen Assimilierung bleibt er gewissermaßen immer Jude. So lautete das antisemitische Verdikt. Wenn Kafka in dieser unangenehmen Situation, in der er „sprachlich erkannt“ wurde, sein Judentum in den Vordergrund stellt, schließe ich daraus, dass er sein Deutsch immer noch lieber mit latentem „Mauscheln“ als mit dem unterstellten „Böhmakeln“ in Verbindung bringen lassen wollte.

Was heißt „Mauscheln“? Und warum war es Kafka weniger unangenehm, als Jude erkannt zu werden?

Blahak: Unter Mauscheln verstand man um 1900 ein Deutsch mit jiddischen Anklängen. Aber die Unterstellung des Mauschelns war natürlich für jemanden, der wie Kafka eine strenge deutsche Schulbildung genossen hatte, unangenehm. Dass er nun mal Jude war, war für ihn hingegen unbestreitbar. Es gibt einen Brief aus dem Jahr 1921, wo er im Prinzip, wenn auch mit ironischem Unterton, das Stereotyp des „latenten jüdischen Mauschelns“ bestätigt. Er schreibt hier, dass „in dieser deutsch-jüdischen Welt“ kaum jemand etwas anderes als Mauscheln könne. Dieses Mauscheln sei „die laute oder stillschweigende oder auch selbstquälerische Anmaßung eines fremden Besitzes, den man nicht erworben, sondern durch einen verhältnismäßig flüchtigen Griff gestohlen hat und der fremder Besitz bleibt, auch wenn kein einziger Sprachfehler nachgewiesen werden könnte.“

Der Akzent, der in Meran auffiel, dürfte kein tschechischer gewesen sein, sondern auf phonetischen Relikten des Jiddischen beruht haben. In den handschriftlichen Autokorrekturen Kafkas finden sich keine Merkmale tschechischer Phonetik, allerdings viele, die dem Jiddischen zuzuordnen sind. Da er beim ekstatischen Schrei-ben stark vom Klang der eigenen Sprache beeinflusst war, unterliefen ihm immer wieder entsprechende Verschreibungen. Wahrscheinlich haben die Österreicher in Meran einfach nur einen auffälligen Akzent und „Prag“ gehört und das Stereotyp von den „böhmakelnden“ Prager Deutschen mit tschechischem Akzent war sofort präsent, ohne dass sie jemals zuvor einen Prager haben Deutsch sprechen hören. Insofern ist Kafka dann wohl auch eher bereit, dass sein Akzent mit seinem Judentum in Verbindung gebracht wird.

Was sagt uns die eingangs beschriebene Tischszene in Meran aber über Kafka und seine Literatur?

Blahak: Für mich ist sie sehr aussagekräftig. Jude ist Kafka nun mal und dazu steht er, auch wenn es das beschriebene antisemitische Stereotyp gibt. Mit einem tschechischen Akzent will er hingegen nichts zu tun haben. So erging es den Prager deutschen Autoren jüdischer Herkunft offenbar häufiger. In Prag, wo es um 1910 nur etwa sieben Prozent Deutschsprachige gab, stand man ständig mit dem Tschechischen in Kontakt und auch mit dem Deutsch, das von Tschechen mit entsprechenden Bohemismen gesprochen wurde. So bestand permanent die Möglichkeit, sich dadurch beeinflussen zu lassen und unwillkürlich selbst Bohemismen zu verwenden. Und damit den Ansprüchen einer hochsprachlichen Literatur nicht zu genügen. Aus der Perspektive des 19. Jahrhunderts, nach der Sprache mit Nation gleichgesetzt wurde, wäre man dann den Anforderungen einer „reinen Sprache“ als Schriftsteller nicht mehr gerecht geworden. Damit befanden sich die Deutsch schreibenden Prager Autoren in einer latenten Unsicherheit.

Welche anderen Schriftsteller?

Blahak: Schriftsteller des sogenannten „Prager Kreises“. Vor allem Johannes Urzidil und Max Brod trugen später zu der Behauptung bei, man habe in Prag das „beste“ Hochdeutsch der ganzen Monarchie gesprochen. Es habe keinerlei regionale Anklänge gehabt, Interferenzen aus dem Tschechischen schon gar nicht. Darin ist ein kollektives Wunschdenken zu erkennen, ein Autostereotyp. Dies scheint natürlich doppelt bedingt, einmal weil sich die Prager Juden im 19. Jahrhundert im Zuge ihrer Assimilation besonders sprachpuristisch verhielten, zum anderen, weil die deutsche Sprachgemeinschaft auch nur eine Minderheit war. Diese Schriftsteller, deren Literatursprache Deutsch war, hatten sozusagen Bedenken, durch eine regionale Markierung ihrer Sprache für eine überregionale Leserschaft, vor allem im Deutschen Reich, „unlesbar“ zu sein.

War das auch die Sorge Kafkas?

Blahak: Es gibt tatsächlich in seiner Literatur das Motiv der Exophonie, des „Fremd-Klingens“ innerhalb einer Gruppe von Sprechern der gleichen Sprache. Die Belege wurden in der Forschung bisher unter der allgemeinen Sprachkritik um 1900 subsumiert. Besonders Fritz Mauthner und Hugo von Hofmannsthal trugen zu der Ansicht bei, dass Sprache die Wirklichkeit nicht adäquat abbilden könne. Bei Kafka gibt es dieses Sprachzweifel-Phänomen aber auch mit der besonderen Facette der sprachlichen Auffälligkeit, die fatale Folgen für den Betroffenen hat.

Gibt es dafür ein konkretes Beispiel in Kafkas Literatur?

Blahak: In einer Variante der Erzählung „Beim Bau der Chinesischen Mauer“ gibt es eine aussagekräftige Stelle. Auf einem Fest irgendwo in China wird ein Flugblatt, das ein Bettler mitgebracht hat, verlesen. Die Gesellschaft bricht in Gelächter aus, das Blatt wird zerrissen und alle gehen auseinander. Die Erklärung folgt: Das Blatt wurde in einer Nachbarprovinz gedruckt und der fremdartig wirkende Dialekt lässt das Geschriebene lächerlich klingen, weswegen sein Inhalt auch nicht mehr ernst genommen werden kann. Ich sehe darin eine Anspielung auf Kafka und seine Literatur. Da entdeckt man einen regionalen Anklang und obwohl aus Kafkas Prosa „das grauenhafte Leben unwiderleglich sprach, schüttelte man lachend den Kopf und wollte nichts mehr hören“, wie es in „Beim Bau der Chinesischen Mauer“ heißt.

Was war mit der tschechischen Sprache?

Blahak: Er konnte gut Tschechisch, aber es war eindeutig seine Zweitsprache. In seinen Tagebüchern gibt es viele – ich würde sagen: leidenschaftliche – Äußerungen über verschiedene Sprachen. Natürlich über das Deutsche, sein literarisches Ausdrucksmedium, über das Französische, die bürgerliche Bildungssprache, und auch über das Ostjiddische, das er in Prag erstmals aus dem Mund ostgalizischer Juden hörte, die eben ihre „eigene“ Sprache sprachen. Die entsprechenden Äußerungen sind häufig emotional gefärbt. Vom Tschechischen im Tagebuch hingegen kein Wort. Das gibt zu denken.

Das Tschechische stellte tendenziell für ihn ein funktionales Medium dar, um mit der tschechischen Mehrheit zu kommunizieren. Vielleicht hat zu der weniger leidenschaftlich ausgeprägten Haltung auch der stark ausgeprägte tschechische Antisemitismus in Prag im frühen 20. Jahrhundert beigetragen: Da die Mehrheit der Juden sich deutsch assimilierte, wurde sie im deutsch-tschechischen Sprachenkampf um den Einfluss in den böhmischen Ländern im 19. Jahrhundert ganz automatisch der „deutschen Seite“ zugeordnet. Tagesbuchschilderungen Kafkas aus dem Jahre 1920 zeigen, wie bedrohlich er seine Situation empfand, als er vom Fenster aus antisemitische Pogrome in den Prager Straßen beobachten musste und sich die Parole „räudige Rasse“ – „prašivé plemeno“ – anhören musste. In gewissen Situationen spielte Kafka seine Tschechischkenntnisse aber auch hoch: Wenn er in eine Tschechin verliebt war oder wenn er sich gegenüber seinem künftigen Arbeitgeber zu profilieren hatte. Als er sich bei der Arbeiter-Unfallversicherungsanstalt bewarb, behauptete er, des Deutschen und Tschechischen vollständig mächtig zu sein – und unterschrieb mit František Kafka.

Wie ging es nach Kafkas Tod mit seinen Texten weiter?

Blahak: Als die multilinguale Prager Sprachlandschaft nach 1945 nicht mehr existierte, versuchten zum Beispiel Brod und Urzidil, ex post ein Bild davon zu gestalten, in dem sie den „Prager Kreis“ und vor allem Franz Kafka gesehen haben wollten. Brod hat Kafkas skizzenhafte Prosa-Fragmente zwar in eine lesbare Form gebracht. Er hat aber vor allem auch Formen eliminiert, die ihm regional markiert erschienen. Kafka wurde von ihm zu einem hyper-hochdeutschen Autor stilisiert, der dann posthum als exemplarisch für die ganze Gruppe stehen sollte. Brod war sich sicher, dass Kafka das größte internationale Potenzial haben würde. Und somit sollte Kafka in einem Deutsch vorliegen, dem keine regionalen Anklänge mehr nachzusagen sind. Zugegeben, Kafka hat sich auch selbst sehr stark an der „reichsdeutschen“ Norm orientiert, weil er natürlich auch selbst überregional gelesen werden wollte.

Unter anderem lässt sich nachweisen, dass Kafka nach Korrekturen seiner Leipziger Verleger gewisse Formen nie wieder verwendete: zum Beispiel „an etwas vergessen“. Es gibt aber auch Fälle, die eine gegenteilige Reaktion auslösen. Ich denke hier an das von Brod geradezu ideologisierte „paar“ ohne Artikel: Ich muss noch „paar Worte“ mit dir reden. Brod behauptete später, dass er dieses „paar“ nur korrigiert hätte, weil Kafka es selbst  immer verbesserte, es also selbst als Fehler wahrgenommen hätte und es daher auch nie in einem zu Lebzeiten gedruckten Werk Kafkas erschienen sei. Erstens gibt es dieses „paar“ durchaus in einem in Prag gedruckten Frühwerk Kafkas. Zweitens nahm Kafka die Korrekturen seines Leipziger Verlags für die Publikation zwar hin, ließ sich aber in seiner Sprachverwendung im Weiteren so gut wie nicht beeinflussen. Im Gegenteil: Geradezu in einer Gegenreaktion benutzte er in der zweiten Hälfte seiner Schaffensperiode praktisch ausschließlich dieses Prager „paar“ im Sinne von „einige“.