Fataler Irrflug

Fataler Irrflug

Vor 70 Jahren wurde Prag versehentlich von den Alliierten bombardiert. Es starben mehr als 700 Menschen

11. 2. 2015 - Text: Respekt, Titelfoto: VHÚ

Nie zuvor und nie danach erlebte die tschechische Metropole in so kurzer Zeit eine solche Tragödie. Am 14. Februar 1945 kamen in nur fünf Minuten 701 Menschen ums Leben, zahlreiche Häuser verschwanden aus den Straßen. Nach dem Luftangriff amerikanischer Bomber zählte die Hauptstadt des damaligen Protektorats Böhmen und Mähren mehr Opfer als das englische Coventry, das wegen der Angriffe der deutschen Luftwaffe im Jahr 1940 zum Symbol der barbarischen Attacken auf Zivilisten geworden ist. Um den Grund für den unerwarteten Luftangriff der tschechischen Verbündeten auf Prag ranken sich bis heute viele Unklarheiten. Es folgt die wahrscheinlichste Version der Geschichte, die sich am kommenden Samstag vor genau 70 Jahren abgespielt hat.

Schon die vierte Stunde beobachtet Kapitän Harold L. Brown aus neun Kilometern Höhe nervös die Landschaft. Beziehungsweise das Wenige, was von ihr durch das kleine Seitenfenster des viermotorigen Bombers zu sehen ist: Sein Radargerät hat schon irgendwo über dem Ruhrgebiet aufgehört zu funktionieren; seitdem navigiert der 25-Jährige seine Boeing B-17 Flying Fortress nur danach, was er durch die Wolken erkennen kann. Gestresst ist auch der Bombenschütze, dem Brown in seinem Winter-Arbeitsanzug von Zeit zu Zeit über die Schulter schaut. Durch das Plexiglasfenster des Bombers sieht er ohnehin nur weiße Watte, die Europa einhüllt wie eine Bettdecke. Auch die übrigen acht Mitglieder der amerikanischen Besatzung sind unruhig. Wenn sie nicht bald mehr als zwei Tonnen Bomben abwerfen, die ihnen in England mitten ins Flugzeug geschichtet wurden, werden sie schnell an dem Punkt sein, wo ihr Treibstoff nicht mehr ausreichen wird, um sicher zurückzukehren.

Doch Dresden ist noch immer nicht in Sichtweite. Sie hätten es schon längst erreichen sollen und mit ihnen auch 60 Bomber in drei Keilformationen, die Brown anführt. Außerdem können jederzeit deutsche Kampfflugzeuge auftauchen: Seit Kriegsbeginn verlieren die USA täglich 170 Flugzeuge, mehr als 10.000 Soldaten sind in ihnen schon ums Leben gekommen. Der Druck wird immer größer. Es ist kurz nach Mittag des 14. Februar 1945. In diesem Moment taucht unter Browns Flugzeug endlich Dresden auf. Der Lotse ruft ins Funkgerät, dass das Ziel in Sicht sei. Oberleutnant Lewis P. Ensign, der im Cockpit einen Meter hinter Brown sitzt, gibt den anderen Flugzeugen den Befehl zum Angriff. (…)

Zur gleichen Zeit wird in der Villa des Arztes Ladislav Černický das Mittagessen vorbereitet. Es ist Aschermittwoch, der erste Tag der Fastenzeit, deswegen wird die Mahlzeit in der Straße Na Farkáně im Prager Stadtteil Radlice bescheiden ausfallen. Der Käufer der Villa starb schon vor dem Krieg, jetzt lebt hier seine Witwe Marie mit ihren drei Söhnen und deren Familien. Als in Prag die Sirenen ertönen, macht sich keiner von ihnen große Sorgen. Sie haben schon oft einen Fliegeralarm miterlebt und immer war es falscher Alarm. Das Letzte, was sechs Mitglieder der Familie (darunter die dreijährige Helenka und der zweijährige Milánek) in ihrem Leben hören, ist ein unheilvolles, sich näherndes Pfeifen. Eine Bombe aus Oberleutnant Ensigns Flugzeug zertrümmert ihr Haus, es überleben nur Maries Söhne Zdeněk und Ivan, die gerade in der Arbeit sind. Und Helenkas Mutter Věra, die die Balken der zerstörten Villa vor dem Tod bewahrt haben. (…)

Dass die 60 Bomber statt nach Dresden ins 120 Kilometer entfernte Prag flogen, entbehrt aus militärischer Sicht jedweder Logik. Wenn sie Probleme hatten, das geplante Ziel zu erreichen, gab es zwei Ersatzziele, die logischerweise näher an England lagen. Im Falle des Angriffs am 14. Februar waren das Kassel und Chemnitz. Prag dagegen war noch weiter entfernt als Dresden. Was haben die Amerikaner also über der Stadt gemacht? (…)

„Wahnsinniger als die Hölle“
Über Europa lag an dem Tag eine dichte, niedrige Wolkendecke. Die Flieger konnten sich nur am Kompass orientieren, der ihnen die Richtung wies. Die zurückgelegte Strecke berechnete der Lotse mithilfe der Uhrzeit, der Fluggeschwindigkeit und der Windstärke. Letztere war ungewöhnlich hoch. (…) Die Situation wurde auch dadurch erschwert, dass die Bomber nicht auf direktem Weg ihr Ziel anflogen: Um die deutsche Luftabwehr zu täuschen und sie bis zuletzt im Unklaren zu lassen, flogen sie quer durch den Himmel über Europa, bevor sie von einem bestimmten „Ausgangspunkt“ den Ort des Angriffs ansteuerten. Der sollte in diesem Fall das sächsische Zwickau 90 Kilometer südwestlich von Dresden sein. Als ihn Brown endlich zwischen den Wolken entdeckte, fragte er über seinen Funker die Lotsen der anderen Flugzeuge, ob sie mit ihm übereinstimmten.

Gleich mehrere von ihnen hatten starke Zweifel. Ralph McIntyre antwortete, man befinde sich mindestens 80 Kilometer weiter südlich. Nunzio Addabbo und Robert H. Friedman schätzten die Entfernung auf das Doppelte. Sie waren sich jedoch nicht sicher und Browns Aussage, dass die Stadt unter ihnen Zwickau sein müsse, brachte sie ins Grübeln. Besonders als Befehlshaber Ensign auf ihre Einwände entgegnete, sie seien „wahnsinniger als die Hölle“. Die Hölle war jedoch auf dem Weg nach Prag. Die Stadt unter den Bombern war in Wirklichkeit Pilsen. (…)

Schon während der Bombardierung wurde McIntyre bewusst, dass er mit seiner Einschätzung leider recht gehabt hatte: „Ich habe beobachtet, dass der Fluss aus Norden in einem anderen Winkel fließt als auf den Bildern von Dresden. Das rief in mir verständlicherweise die Frage hervor, wo wir eigentlich waren. Aber ansonsten sahen sich die beiden Städte unglaublich ähnlich.“ Friedman bemerkt den Irrtum etwas später, als sein Flugzeug auf Luftabwehrvorrichtungen trifft, wo seiner Deutschlandkarte zufolge keine Geschütze sein sollten. Die anderen Flieger erfahren nach ihrer Rückkehr vom tragischen Fehler. (…)

Das alles erklärt aber nicht, warum in Prag in nur fünf Minuten so viele Zivilisten starben. Kurz vor dem Ende des Kriegs waren die Städte in Europa auf Luftangriffe vorbereitet: Fast in jedem Haus gab es einen Luftschutzkeller, auf öffentlichen Plätzen gab es Bunker, und Sirenen kündigten Bombenangriffe mit zeitlichem Vorlauf in der ganzen Stadt an. Prag war keine Ausnahme. Die Deutschen hatten rund um die Stadt 50 Flugabwehrkanonen errichtet, einschließlich zweier Batterien in der Jelení-Straße und auf der Letná-Ebene zum direkten Schutz der Prager Burg. In ihren Kellern wurden auch bereits im Februar 1944 vorsorglich die Kronjuwelen eingemauert. Einem Angriff war die Stadt jedoch bisher entgangen – mit Ausnahme einer Bombardierung des Viertels Holešovice im November 1944, bei dem es drei Todesopfer gab. Dafür war ein einziger britischer Bomber verantwortlich gewesen, der seine Ladung wahrscheinlich aus Not bei einem Irrflug durch Europa über einem Kraftwerk am Stadtrand abgeworfen hatte.

Es ist kein Wunder, dass die Sorgen der Tschechen immer kleiner wurden, je öfter die Alliierten über das Protektorat flogen. Die Ankündigung von „feindlichen Bombern“ war für sie eine Erscheinung der Zeit, die immer mit Sirenengeheul begann. Man begab sich in die Keller, bis die Sirenen das Ende des Alarms signalisierten, dann ging man wieder nach Hause. Schon bald ignorierten die meisten Prager die Alarmsignale. Sie waren sich sicher, dass die Alliierten Prag nicht angreifen würden. Schließlich wurde überall hinter vorgehaltener Hand erzählt, dass man das dem Exilpräsidenten Beneš in London versprochen habe. (…)

Drei Minuten nach halb eins
Am 14. Februar 1945 begannen die Sirenen 20 Minuten nach zwölf Uhr mittags zu heulen. Ein paar Sekunden später tauchten über der Stadt die ersten Bomber auf. Zeitzeugen erinnern sich bis heute, wie sie anstatt in die Keller auf die Plätze strömten, um sich die silbernen Maschinen am Himmel anzusehen, von denen sie annahmen, dass sie – wie immer – ins verhasste Reich flogen. (…)

Die ersten Bomben fallen auf Radlice. Neben der Villa der Familie Černický treffen sie den Friedhof Malvazinky so heftig, dass in der Umgebung noch einige Tage später Knochen herumliegen, die bei der Detonation exhumiert wurden. Der Angriff setzt sich entlang der Moldau fort. Getroffen wird die Palacký-Brücke, schwer beschädigt wird die Myslbek-Statue „Záboj a Slavoj“. In den Straßen zählt man bereits Dutzende Opfer, doch das Schlimmste steht Prag noch bevor.

Die Uhr am Jirásek-Platz bleibt nach einem Splittereinschlag eine Minute vor halb eins stehen. In der Resslova-Straße brennen vier Straßenbahnen. Am Karlsplatz verstecken sich im Keller hinter dem Karolina-Světlá-Denkmal etwa hundert Mütter mit Kindern, die gerade auf einem Mittagsspaziergang waren. Eine Bombe schlägt direkt in den Bunker ein, innerhalb eines einzigen Augenblicks sind alle tot. Das benachbarte Emmauskloster der Benediktiner liegt in Trümmern, der Angriff macht einen großen Teil des gotischen Bauwerks, das von Karl IV. gestiftet wurde, dem Erdboden gleich. Ein paar Meter weiter kehrt die 16-jährige Eva Ladová von der Klavierstunde zurück. Der Maler Josef Lada findet seine Tochter erst drei Tage später unter den anderen Toten auf dem Fußboden der Kirche des Heiligen Ignatius. Der Angriff setzt sich fort in Richtung Vinohrady. (…) Die letzten Bomben fallen auf den Stadtteil Vršovice. Drei Minuten nach halb eins ist alles vorbei. Statistiken der Stadt sagen, dass 2.500 Häuser getroffen wurden, 88 davon wurden schwer beschädigt, 68 ganz zerstört. Die Brände werden nur langsam gelöscht, die meisten Feuerwehrmänner wurden nach Dresden abberufen, um dort zu helfen. (…)

Die Presse im Protektorat wird in den folgenden Tagen versuchen, die Bürger zu überzeugen, dass die Tschechen Ziel eines Terroranschlags aus der Luft geworden seien. Der Angriff vom Februar 1945 hat sich aber nicht einmal nach der Revolution im Februar 1948 als Symbol des angloamerikanischen Grauens ins Bewusstsein der Tschechen eingeschrieben. In einer paranoiden Zeit, in der man sich vor allem darum kümmerte, zu verhindern, dass die Amerikaner die Tschechoslowakei mit Kartoffelkäfern bombardieren, gerieten die Toten vom Februar 1945 aufs Abstellgleis.

Im Jahr 2000 besucht eine Gruppe amerikanischer Veteranen der 398. Bombergruppe das neu errichtete Emmauskloster. Bei Pfarrer Vojtěch Engelhart entschuldigen sie sich dafür, dass sie vor 55 Jahren sein Heiligtum zerstört haben. „Wir mussten zurückkehren, um zu sagen: Wir sind schuldig, weil wir Bomben auf dieses prachtvolle Gebäude geworfen haben“, sagt der Pilot Allen Ostrom. Der Geistliche entgegnet ihm, er müsse sich nicht entschuldigen: „Viel mehr Schaden als Ihre Bomben haben uns die 40 Jahre der russischen Okkupation zugefügt.“

Der Text erschien zuerst in der Wochenzeitschrift „Respekt“ Nr. 7/2015. Autor: Jan H. Vitvar, Übersetzung (gekürzte Fassung): Corinna Anton

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