„Es gibt keine deutsche Karte mehr“

„Es gibt keine deutsche Karte mehr“

70 Jahre Kriegsende: Tschechiens Kulturminister Daniel Herman spricht im PZ-Interview über Schuld und Versöhnung und erklärt, warum Deutschland ein Vorbild ist

29. 4. 2015 - Text: Josef Füllenbach, Foto: KDU-ČSL

Am vergangenen Sonntag ist auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Flossenbürg an dessen Befreiung vor 70 Jahren durch die US-Armee erinnert worden. An dem feierlichen Gedenk-akt nahm neben dem bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer (CSU) und mehreren Ministern auf Bundes- und Landesebene auch Tschechiens Kulturminister Daniel Herman (KDU-ČSL) teil. In der nahe der tschechischen Grenze gelegenen Gedenkstätte sprach der Christdemokrat zu zahlreichen Gästen aus dem In- und Ausland, darunter über 40 Überlebende sowie Angehörige und Nachkommen der Opfer. Zuvor führte PZ-Mitarbeiter Josef Füllenbach mit dem Minister ein Gespräch über Schuld und Versöhnung, die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und Wege in die Zukunft.

Mindestens 30.000 Gefangene sind zwischen 1938 und 1945 im Konzentrationslager Flossenbürg ums Leben gekommen. An der Gedenkfeier zur Befreiung nehmen Sie persönlich teil – welche Bedeutung hat diese Gedenkstätte für Sie?
Der 70. Jahrestag des Kriegsendes ist ein wichtiger Tag des Erinnerns; das ist der Hauptgrund meiner Teilnahme in Flossenbürg. Für das Kulturministerium stellt die Aufarbeitung der Vergangenheit eine Priorität dar, die Gedenkkultur ist ein wichtiger Stein im Mosaik der gesamten Kultur. Zudem stamme ich aus einer Familie, von der viele Verwandte während des Krieges ermordet wurden. Mein Großvater mütterlicherseits ist zum Beispiel im KZ Mauthausen zu Tode gekommen. Von daher habe ich eine besondere Affinität zu diesem Thema, ich bin damit aufgewachsen. Und schließlich haben im KZ Flossenbürg viele tschechoslowakische Häftlinge ihr Leben verloren.

Deutschland wird oft als Beispiel dafür angeführt, wie sich eine Gesellschaft mit den dunklen Seiten ihrer Geschichte auseinandersetzen sollte. Stimmen Sie dem zu?
Für mich stimmt das zu 100 Prozent. In Deutschland habe ich zum Teil studiert (an der Universität von Eichstätt, Anm. d. Red.), und ein Teil meiner Familie lebt in Deutschland. Ich bin also über die Verhältnisse dort sehr gut im Bilde.

Halten Sie es für hilfreich oder eher kontraproduktiv, Deutschland in dieser Hinsicht als Vorbild hinzustellen, beispielsweise für die Tschechen?
Meiner Ansicht nach ist Deutschland für uns ein Vorbild für die Art, wie die dunklen Seiten der Geschichte aufgearbeitet werden können. Denn in Deutschland ist das gelungen. Ich habe schon unzählige Male an verschiedenen Feierlichkeiten oder Gedenkakten in Deutschland teilgenommen. Wie die meisten deutschen Politiker über diese Fragen sprechen, ist auch für mich selbst eine Schule der Rhetorik. Das mögen nicht alle Tschechen so sehen – nun ja, man braucht sich nach vierzig Jahren kommunistischer Gehirnwäsche nicht zu wundern. Die Mehrheit jedoch sieht es meiner Ansicht nach so wie ich.

Sehen Sie noch Defizite auf tschechischer Seite bei der Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit, zum Beispiel mit den wilden Vertreibungen unmittelbar nach dem Krieg oder auch mit den Verbrechen des kommunistischen Regimes zu Beginn der fünfziger Jahre?
Natürlich sehe ich da noch Defizite. Die Vertreibung der Deutschen generell, nicht nur die „wilde“, aus Böhmen, Mähren und Schlesien sehe ich als einen Akt der Rache. Die Vertreibung spielte sich nach dem ethnischen Prinzip oder dem Prinzip der Kollektivschuld ab; das ist absolut unakzeptabel. Schon Präsident Václav Havel hat das ganz klar formuliert. Es handelte sich also um eine Tat der Rache und nicht der Gerechtigkeit. Der Gesichtspunkt der politischen und strafrechtlichen Verantwortung ist durch die ethnische Zugehörigkeit ersetzt worden. Aber zwischen beiden Aspekten muss man gründlich unterscheiden. Ich bin in einer Familie aufgewachsen, die unter den Nationalsozialisten schwer gelitten hat. Meine Familie ist zur Hälfte jüdischen Ursprungs. Viele meiner Verwandten sind ermordet worden, und einige, die überlebt haben, wurden nach dem Krieg aus ihrer Heimat vertrieben. Ich bin also mit den Fragen von Schuld und Versöhnung aufgewachsen. Daraus erwuchsen für mich gleichsam in einer „Universität des Lebens“ viel wichtigere Lehren als bloß theoretische Erkenntnisse, weil diese Lehren mit konkreten Menschen und ihrem Leid verbunden sind. Versöhnung und echte Aussöhnung zählen für mich zu den höchsten Prioritäten. Als Vorsitzender der tschechischen Ackermann-Gemeinde engagiere ich mich sehr auf diesem Gebiet. Analoges gilt auch für die kommunistische Ära, für die Verbrechen der kommunistischen Zeit. Ich habe drei Jahre lang als Direktor des Instituts für das Studium der Totalitären Regime gearbeitet, einer Schwesterinstitution der Behörde des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen in Berlin, die der heutige Bundespräsident Gauck gegründet hat.

Aber wird das, was Václav Havel dazu gesagt hat und was Sie jetzt auch formulieren, in der Tschechischen Republik allgemein geteilt?
Nun, da fehlt noch etwas. Wir sind meiner Ansicht nach dort, wo Deutschland in den siebziger Jahren war. Es dauert, es braucht seine Zeit. Vierzig Jahre der kommunistischen Propaganda haben ihre Spuren hinterlassen. Was ich zum Beispiel in der Schule gehört habe, war vielfach Lüge: Hinter dem Böhmerwald lauerten die westdeutschen Revanchisten und die Amerikaner. Und wenn so etwas über vier Dekaden nahezu jeden Tag wiederholt wird, im Fernsehen, im Radio, in den Zeitungen, dann bleibt etwas hängen. Aber für die jüngere Generation ist das überhaupt kein Problem mehr. Die sind schon ganz anders aufgewachsen. Die Erneuerung der Fassaden oder die Erneuerung der Ökonomie ist nicht so schwierig, aber eine echte Erneuerung der Mentalität und der Werteskala braucht schon ihre Zeit, meiner Ansicht nach mehr als nur eine Generation. Ein sehr schönes Beispiel ist der Exodus der Juden aus Ägypten vor 4.000 Jahren. Ihr Weg hat vierzig Jahre gedauert. Aus Ägypten ist die Generation der Sklaven herausgegangen, aber ins Heilige Land ist eine neue Generation der freien Menschen hineingegangen. Ich habe diese Parabel in einem ganz neuen Licht erst nach dem Zusammenbruch des Regimes verstanden, in der Bibel ist das wunderschön zum Ausdruck gebracht.

Auf welche Weise fördert Ihr Ministerium oder die tschechische Regierung die Erinnerungskultur in Ihrem Land?
Ich sehe das als Aufgabe des Kulturministeriums und damit als meine Aufgabe. Ich spreche dieses Thema an, wo immer es möglich ist. Zum Beispiel ist das frühere Roma-Lager Lety (wo heute eine Schweinemast betrieben wird, Anm. d. Red.) ein wichtiges Thema. Mit Ministerpräsident Sobotka habe ich darüber mehrmals gesprochen, auch mit Minister Dienstbier, der für Menschenrechtsfragen zuständig ist. Mit den Verantwortlichen in Lety suchen wir nach einem Lösungsweg. Die Leute, die heute die Farm bewirtschaften, tragen natürlich keine Schuld. Sie zeigen sich sehr kooperativ. Aber eine Lösung wird etwas kosten. Wie Sie sehen, geht es auch in diesem Fall leider ums Geld. Wir wissen derzeit noch nicht, wie viel eine sinnvolle Lösung kosten würde.

Hat der Finanzminister für solche Fragen eine Antenne?
Über solche Fragen können wir mit Minister Babiš mehr oder weniger gut sprechen. Er ist sicherlich nicht a priori gegen Gedenkorte oder allgemein gegen die Kultur eingestellt. Natürlich setzt er seine Akzente anders, das ergibt sich aus seinen spezifischen Aufgaben und seiner Verantwortung. Aber auf der anderen Seite kann man mit ihm ganz offen darüber sprechen, dass auch dieser Teil unserer Aufgaben nicht ohne finanzielle Mittel wahrgenommen werden kann.

Die Sudetendeutsche Landsmannschaft hat kürzlich den Anspruch auf Rückgabe des konfiszierten Eigentums aus ihrer Satzung gestrichen.
Davon habe ich mit Freude gehört.

Könnte das ein Anstoß für die tschechische Seite sein, über neue Schritte des Entgegenkommens nachzudenken?
Ja, ich bin der Meinung, dass es helfen könnte. Mit der Sudetendeutschen Landsmannschaft und speziell mit Herrn Posselt sind wir seitens der Ackermann-Gemeinde schon seit Jahren im Gespräch. Diese „zwischenmenschliche Diplomatie“ funktioniert schon sehr lange und das ist gut so. Der Kontakt kann durch diesen Schritt noch vertieft werden. Die Eigentumsfragen waren ein Stein der Irritationen. Ich glaube, dass die Satzungsänderung für die tschechische Seite eine Art Appell ist. Wir müssen unsere Einstellung zu diesen Fragen irgendwie klarer formulieren. Auf Regierungsebene habe ich über diese Themen mehrmals gesprochen, auch mit dem Ministerpräsidenten. Und meinem Eindruck nach stoße ich dabei in der Regierung auf breites Verständnis. Natürlich sind die Kommunisten immer gegen das Gespräch mit den Sudetendeutschen, ganz im Sinne der kommunistischen Intoleranz. Auf der anderen Seite sind auch innerhalb der ODS ähnlich ablehnende Stimmen zu hören. Aber ich finde, da geht es mehr um Populismus als um reale Politik.

Wenn Sie sagen, wir müssen unsere Position klarer fassen und weiter nachdenken: Schließen Sie darin auch die Frage der Beneš-Dekrete ein?
Ich bin kein Jurist. Meiner Ansicht nach muss zuerst die Mentalität geändert werden. Und zwar vor allem in dem Sinne, dass Kollektivschuld entsprechend der ethnischen Zugehörigkeit abzulehnen ist. Das hat nicht nur Präsident Havel gesagt, sondern auch der frühere Ministerpräsident Jiří Paroubek, als er ein Wort der Entschuldigung an die Adresse der sudetendeutschen Antifaschisten gerichtet hat. Die Beneš-Dekrete sind ein Teil unseres Rechtssystems. Heute wären sie unvorstellbar und unakzeptabel. Man muss ihr Entstehen aus dem Kontext der damaligen Zeit unmittelbar nach dem Krieg verstehen, als die Verbrechen von Lidice und Ležáky noch frisch im Gedächtnis waren. Die damalige Perspektive war eine andere als der heutige Blick des 21. Jahrhunderts. Aber mit dieser Feststellung will ich Unrecht von damals auf keinen Fall rechtfertigen. Es geht mir um das bessere Verständnis.

Die Erinnerung an die Geschehnisse vor 70 und mehr Jahren wird gelegentlich noch in aktuellen politischen Auseinandersetzungen instrumentalisiert. Wie kommt es, dass die „deutsche Karte“ besonders in Tschechien immer noch Emotionen weckt?
Deutschland ist für uns das wichtigste Nachbarland, auch als Wirtschaftspartner. Man sagt manchmal, dass wir das 17. Bundesland sind. Die Beziehungen und Kontakte sind sehr intensiv. Und die deutsche Karte? Es gibt keine deutsche Karte mehr. Einige Randströmungen, die vor allem unter den Kommunisten und unter den Chauvinisten oder Nationalisten zu finden sind, wollen mit dieser Karte vor den Wahlen spielen, zum Beispiel vor den Präsidentschaftswahlen. Aber das wirkt immer weniger.

Gelegentlich hört oder liest man in Tschechien, die Rote Armee habe das Land vor 70 Jahren nicht nur von der Naziherrschaft befreit, sondern zugleich eine neue Diktatur gebracht. Sehen Sie in dieser These nicht auch eine Leugnung der eigenen aktiven Rolle bei der Errichtung der kommunistischen Herrschaft? Also eine Flucht vor der eigenen Verantwortung und ein Festhalten an der Opferrolle?
Ja, sicher. Heute haben aber die meisten verstanden, was kommunistische Diktatur bedeutet. Zudem denke ich, dass die Vertreibung der Sudetendeutschen der erste Schritt zur Sowjetisierung des Landes war – ein Zusammenhang, den schon Havel benannt hat. Heute leben wir in der Freiheit. Unsere gemeinsame Aufgabe ist es, den Raum der Freiheit unter dem Dach des gemeinsamen europäischen Hauses zu füllen. Darin sehe ich eine große geschichtliche Chance. Ich bin fest davon überzeugt, dass Deutsche und Tschechen zusammengehören. Nach den Jahrhunderten der Gemeinsamkeit im Heiligen Römischen Reich ist das Teil unserer Identität.