Endstation Freiheit

Endstation Freiheit

Die Bahnstrecke von Aš nach Selb-Plößberg war 1951 Schauplatz einer spektakulären Zugentführung. Am Wochenende wird sie wiedereröffnet

9. 12. 2015 - Text: Maria Hammerich-MaierText: MAria Hammerich-Maier; Foto: C. Anton

Gerta Adler-Fröhlich weiß an diesem Nachmittag nicht, wie ihr geschieht. Die Lehrerin, die an einer Grundschule in Františkovy Lázně (Franzensbad) unterrichtet, fährt am 11. September 1951 mit dem Zug von der Arbeit nach Hause. Während der Fahrt spielt sie wie gewöhnlich eine Partie Mariage. Zur Kartenrunde gehören auch einige Schüler des Gymnasiums in Cheb (Eger), die wie Gerta in Aš (Asch) wohnen. Plötzlich hebt Gerta den Kopf. Der Zug braust auffällig schnell durch die Landschaft, dann quietschen die Bremsen und er hält ruckartig an. „Wo sind wir denn da? Das ist doch nicht der Bahnhof von Aš“, ruft Gerta aufgeregt. Die Kartenrunde stürzt ans Fenster, schiebt es nach unten. Draußen arbeitet eine Bäuerin auf dem Feld. „Können Sie uns sagen, wo wir sind?“, fragt einer der Gymnasiasten. Die Frau starrt ihn verständnislos an. „Wo sind wir?“, wiederholt Gerta auf Deutsch. „Wo ihr seid? Na, in Deutschland.“

Max Schmauß trifft wenig später bei der Lokomotive mit dem Sowjetstern ein. Der Zug war knapp vor dem Bahnübergang Wildenau zum Stehen gekommen. Dort befand sich der erste Schrankenposten auf deutschem Gebiet. Schmauß war Dienststellenleiter des nächsten Bahnhofs, in Selb-Plößberg. Er hatte frei und war mit seiner Familie und einem jungen Kollegen, dem Zollanmelder Rolf Swart, zu einem Spaziergang aufgebrochen. Als sie aus der Ferne sahen, dass ein Zug über die Grenze donnerte, liefen sie alarmiert zum Wärterhäuschen bei Wildenau zurück.

Bei ihrer Ankunft dort steigen gerade einige Fahrgäste aus, andere schauen verstört aus den Fenstern. Neben dem Zug steht eine Gruppe Männer auf dem Bahndamm. Sie sind angespannt, manche rauchen. Schmauß erkennt einen der Männer. Es ist Karel Truksa, ein Bediensteter der Tschechoslowakischen Staatsbahn ČSD. Schmauß, der bis zur Vertreibung Bahnhofsvorstand in Asch war, hatte öfter dienstlich mit Truksa zu tun gehabt. Schmauß tritt zu der Gruppe. Truksa und er begrüßen sich mit einem Handschlag wie alte Bekannte.

Weder Gerta und ihre Freunde noch Max Schmauß und Rolf Swart wissen in dem Augenblick, dass der Personenzug entführt wurde. Auch die meisten der 113 Fahrgäste und Angestellten sind vollkommen ahnungslos. Einzig die Männer neben dem Zug wissen, dass ihre Flucht geglückt ist. Sie sind frei.

Mit dem Ablauf vertraut
Organisiert hatten die Zugentführung der Lokführer Jaroslav Konvalinka und Karel Truksa, Fahrdienstleiter am Bahnhof in Cheb. Die beiden waren mit den Betriebsabläufen bei der Bahn vertraut. Mehrere andere Fluchtwillige hatten sie unterstützt, darunter der Arzt Jaroslav Švec aus Aš. Alle Akteure verband, dass sie Gegner der Kommunisten waren. Sie hatten sich in den Dienst von Widerstandsgruppen gestellt, die im Untergrund operierten. Der 23-jährige Karel Ruml etwa, der aus Nymburk (Nimburg) stammte, war wegen seiner bürgerlichen Herkunft als „politisch unzuverlässig“ vom Studium der Rechtswissenschaften ausgeschlossen worden. Danach hatte er sich einer Widerstandszelle angeschlossen und mehrere Monate lang Mikrofilme mit geheimen Nachrichten von der polnischen Grenze nach Prag geschmuggelt.

Die Hauptakteure, Truksa und Konvalinka, hatten sich bereits vorher als Fluchthelfer betätigt. „Täglich sehen wir um uns herum so viel rohe Gewalt und Morde. Ich und Jaroslav beschlossen, einigen der Unglücklichen zu helfen und sie über die Grenze zu bringen“, schrieb Truksa später im amerikanischen Exil in der Autobiografie, die er gemeinsam mit Konvalinka verfasste. Sie brachten die Menschen sowohl zu Fuß als auch mit der Bahn über die Grenze. Im November 1949 wurde Truksa verraten und verhaftet. Nach fünf Monaten Untersuchungshaft flüsterte ihm eines Tages der Gefängnisarzt Švec bei einer Untersuchung ins Ohr: „Gestehe nichts, bald kommst du frei.“ Kurz darauf wurde Truksa mangels Beweisen entlassen.
Danach schlossen sich Truksa und Konvalinka der Widerstandsgruppe in Cheb an, der Truksa seine Freilassung verdankte. Diese Gruppe war auch nachrichtendienstlich aktiv. Anfang September 1951 verdichteten sich die Hinweise darauf, dass die Geheimpolizei Truksa, Konvalinka und Švec dicht auf den Fersen war. Erst jetzt schmiedeten sie den Plan, einen Personenzug zu entführen.

Am 11. September ertönte am Bahnhof in Cheb pünktlich um 14.12 Uhr das Signal zur Abfahrt des Personenzuges mit der Nummer 3717. Am Führerstand der Lokomotive war Konvalinka. Er hatte die Schicht mit einem Kollegen getauscht. Truksa hatte sich unter einem Vorwand zu Konvalinka gesellt, obwohl er an dem Tag frei hatte. In einem der drei Waggons saßen bereits Truksas Frau mit ihrem sechs Monate alten Kind sowie „mehrere eingeladene Bekannte“, wie Truksa in seiner Autobiografie schrieb. In Cheb stieg Konvalinkas Frau mit ihren beiden Söhnen zu.

In Františkovy Lázně sprangen Truksa und Konvalinka von der Lok und machten sich an der Druckluftbremse zu schaffen. Sie bereite Probleme, erklärten sie dem verwunderten Zugführer Böhm. Beim nächsten Halt betrat Švec mit seiner Familie den Zug. Seine Tatra-Limousine habe am Morgen gestreikt, erklärte Švec Mitreisenden, und er fahre mit seiner Familie in den Urlaub, deshalb hätten sie so viel Gepäck dabei. Bevor Švec einstieg, gab er dem Lokführer per Handzeichen zu verstehen, dass das Fluchtgleis in Aš frei sei. Bis dorthin waren es noch neun Kilometer.

Kurz nach Hazlov (Haslau) hielt der Zug auf der Strecke nochmals an. Truksa und Konvalinka ließen, Reparaturarbeiten vortäuschend, noch mehr Luft aus den Bremsleitungen ab. Nun war die Notbremse außer Betrieb. Als sich der Zug dem Bahnhof Aš näherte, zog Truksa seine Pistole und befahl dem Heizer Josef Kalabza, sich auf den Boden zu legen. Nun öffnete der Lokführer den Dampfdruckregler. Der Zug beschleunigte und brauste mit hoher Geschwindigkeit ohne anzuhalten am wild gestikulierenden Fahrdienstleiter vorbei durch den Westkopf des Bahnhofs, unaufhaltsam auf die nahe Staatsgrenze zu. Der Bahnhof war noch wie in der Vorkriegszeit für Durchfahrten nach Hof ausgelegt. Wenige Minuten später war der Zug in Bayern. Einige tschechoslowakische Grenzschützer, die an der Trasse wachten, feuerten ihm noch ein paar Schüsse hinterher. Sie blieben ohne Wirkung.

Notfalls mit Gewalt
Im Zug beruhigte Švec unterdessen die aufgeregten Passagiere: „Wir fahren gerade über die tschechoslowakische Grenze. Haben Sie keine Angst, wer will, kann zurückkehren.“ Der Arzt stand unauffällig neben der Handbremse des Waggons. Auch in den beiden anderen Waggons wachten bewaffnete Posten bei den Handbremsen. Sie hatten die Aufgabe, jeden zurückzuhalten, der versuchte, die Handbremse während der Fahrt über die Grenze zu betätigen, notfalls auch mit Gewalt.

In Wildenau erfuhr nun auch Max Schmauß, der einen technischen Defekt vermutet hatte, dass er Zeuge einer organisierten Flucht geworden war. Schmauß verständigte die amerikanischen Militärbehörden in München. Der Zug fuhr in den Bahnhof Selb-Plößberg ein. Wenig später kamen mehrere Jeeps mit deutschen Polizisten und Angehörigen des amerikanischen Militärs an.

Die Amerikaner teilten die Insassen des Zuges in zwei Gruppen. Reisende und Bahnmitarbeiter, die in die Tschechoslowakei zurück wollten, mussten zunächst im Zug bleiben. Am folgenden Tag wurden sie mit Lastwagen zum Truppenübungsgelände Grafenwöhr gebracht. Nach der Registrierung und Befragung durch amerikanische Offiziere wurden 77 Personen am 13. September mit Bussen an die Staatsgrenze gefahren und bei Aš den tschechoslowakischen Behörden übergeben.

Die anderen entschlossen sich, im Westen zu bleiben. Nicht alle waren in dieser Absicht in den Zug gestiegen. Drei Gymnasiasten aus Cheb etwa sprangen spontan ab. Die Flüchtlinge wurden in Lagern untergebracht, bis die Formalitäten für die Ausreise in die USA, Kanada oder Großbritannien erledigt waren.

In der Tschechoslowakei reagierten die Medien zögerlich. Die Berichte, die mit einiger Verspätung entstanden, waren in der Diktion des Propagandakrieges gehalten. Bewaffnete amerikanische Agenten und Terroristen hätten einen Zug geraubt und mit diesem Gangsterstück einen Angriff auf die Souveränität des Landes und die Freiheit seiner Bürger verübt, hieß es. Eine Reisende namens Anna Pubáková berichtete laut Medien, sie habe in Wildenau gesehen, wie die „heimischen Terroristen von verräterischen Emigranten und amerikanischen Agenten, die sie bereits erwarteten“ begrüßt worden seien. Es dürfte der Handschlag zwischen Truksa und Schmauß gewesen sein, den die Arbeiterin beobachtet hatte.

Im Westen dagegen löste die spektakuläre Flucht mit dem Zug ein enormes mediales Echo aus. Der „Freiheitszug“, wie er bald hieß, stand mehrere Wochen in Selb-Plößberg auf einem Nebengleis, bewacht von amerikanischen Soldaten. Dann wurde er an die Tschechoslowakei zurückgegeben. Rolf Swart befand sich als Rangierer auf dem letzten Waggon. „Der Zug wurde auf den Zentimeter genau bis an die Staatsgrenze gefahren“, erinnert sich der Zeitzeuge aus Selb. „Wir mussten sehr vorsichtig sein.“

Gestern und heute: von Hof bis Cheb
Die direkte Bahnverbindung zwischen Hof an der Saale und Eger wurde 1865 gebaut, um die regionale Wirtschaft zu beleben. Der Betrieb wurde am 1. November aufgenommen und war an die Königlich Bayerischen Staatsbahnen verpachtet. Die Strecke zweigte südlich von Hof beim Bahnhof Oberkotzau von der Verbindung Hof – Bamberg ab. Die Staatsgrenze wurde von den beiden Stationen Selb-Plößberg und Asch Bayerischer Bahnhof flankiert. Nach zwei weiteren Stationen, Haslau und Franzensbad, erreichte man Eger. Von den beiden Grenzbahnhöfen ging jeweils eine Nebenstrecke ab. Der Bayerische Bahnhof in Asch war ein Keilbahnhof. Während das Hauptgleis auf der Westseite des Empfangsgebäudes für die Durchfahrt nach Hof ausgelegt war, führte auf der Nordseite ein Gleis weiter zur Station Asch-Stadt und über Rossbach (Hranice) bis ins sächsische Adorf.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde der grenzüberschreitende Personenverkehr auf der Strecke Selb-Plößberg – Aš eingestellt. Nur der Güterverkehr wurde ab 1950 wieder aufgenommen. Zu Beginn der fünfziger Jahre fuhren werktags zwei Güterzüge von Aš nach Selb-Plößberg und zurück, ein Frühzug und ein Abendzug. Am Wochenende verkehrte nur ein Güterzug. Sie beförderten tschechoslowakische Kohle für die Industrie nach Oberfranken. Später wurden auch Holz und andere Güter transportiert. Im Mai 1995 wurde der Güterverkehr eingestellt und die Bahnstrecke stillgelegt. Am 13. Dezember 2015 wird die baulich von Grund auf erneuerte Bahnstrecke zwischen Selb-Plößberg und Aš wiedereröffnet. 150 Jahre nach der Gründung geht damit die direkte Bahnverbindung zwischen Hof und Cheb sowohl für Personen- als auch für Güterzüge wieder in Betrieb.   (mhm)