Eitler Tand?

Eitler Tand?

Nach Jahrhunderten im Dämmerzustand ist der Pulverturm seit rund 130 Jahren ein Schmuckstück der Stadt

11. 8. 2016 - Text: Josef Füllenbach, Titelfoto: A. Savin, Wikimedia Commons

Nicht einmal 500 Meter von dem in der vergangenen Ausgabe vorgestellten Heinrichsturm (Jindřišská věž) entfernt steht der Pulverturm. Die ursprüngliche Funktion beider Bauwerke erschließt sich dem Betrachter nicht auf Anhieb. Der Pulverturm steht am Rande der Prager Altstadt, wo früher deren Befestigungsanlagen verliefen. In unmittelbarer Nähe des Pulverturms endet die bedeutende Straße Am Graben (Na příkopě), die den Wenzelsplatz mit dem Platz der Republik (Náměstí Republiky) verbindet und nach einem wichtigen Teil der alten Stadtbefestigung benannt ist: nach dem im frühen 13. Jahrhundert parallel zur Stadtmauer ausgehobenen, etwa zehn Meter breiten und acht Meter tiefen Graben, der mit Wasser der Moldau gefüllt war und als künstlicher Seitenarm des Flusses die Altstadt praktisch zu einer Insel werden ließ.

Dennoch diente der Pulverturm (tschechisch: Prašná brána – Pulvertor) nie als Stadttor oder als einer der 13 Wehrtürme der Stadtmauer, die schützend die Altstadt umgab. Als nämlich der Bau des Pulverturms 1475 begann, lag die Gründung der Prager Neustadt durch Karl IV. schon fast 130 Jahre zurück. Da deren Gebiet die Altstadt wie ein breiter Gürtel vollständig zur Moldau hin umschloss, musste die Stadtbefestigung entsprechend weiter nach außen verlegt werden. Nicht weit vom heutigen Standort des Pulverturms stand jedoch schon seit dem Ende des 13. Jahrhunderts ein Turm mit Tor als wichtiger Bestandteil des damaligen Befestigungssystems der Altstadt. Dieser Turm veränderte bald nach der Anlage der Neustadt seine Funktion, denn ganz in seiner Nähe – etwa dort, wo heute das Gemeindehaus (Obecní dům) steht – ließ König Wenzel IV., der Sohn Karls IV., um 1380 zwei Bürgerhäuser abreißen und an ihrer Stelle für seine privaten Zwecke den sogenannten Königshof errichten. An ihn erinnert noch heute die Königshofer Straße (Králodvorská), die vom Platz der Republik in einem Bogen um das Hotel Paris und das Gemeindehaus zur Zeltnergasse (Celetná) führt.

Da die Prager Burg in den Hussitenkriegen schwer beschädigt worden war, wählte sich der utraquistische König Georg von Podiebrad (Jiří z Poděbrad – böhmischer König 1458-1471) den Königshof zu seiner Herrscherresidenz, die er zu diesem Zweck weiter ausbauen ließ. Neben Erweiterungsbauten wurde vor allem der Turm in den Komplex eingebunden und auf Höhe des ersten Stockwerks über eine Brücke vom Königshof aus zugänglich gemacht. Die Räume im Turm dienten fortan prunkvollen Versammlungen oder Feierlichkeiten.

Der Pulverturm vor seiner Generalüberholung, 1856

Meister mit Mängeln
Daran änderte sich nichts, als 1471 der Jagellone Vladislav II. auf den Thron kam (böhmischer König bis 1516). Er begann zwar, die Prager Burg wieder herzurichten und ihr zum Beispiel mit dem Vladislav-Saal neuen Glanz zu verleihen, aber diese Arbeiten brauchten Zeit, zumal es an den notwendigen finanziellen Mitteln haperte. Andererseits war der Turm am Königshof – auch Bergtor (Horská brána) genannt, da die Straße nach Kuttenberg (Kutná Hora) durch dieses Tor führte – seinerseits baufällig und unansehnlich geworden, so dass die Altstädter Ratsherren beschlossen, in der Nachbarschaft einen neuen Turm mit einem Torbogen zu errichten.

Ende März 1475 legte Vladislav II. den Grundstein zum Bau des heutigen Pulverturms „mit Gottes Hilfe“, wie eine Inschrift am Gesims des ersten Stockwerks bezeugt. Den Bau jedoch finanzierten gemäß der gleichen Inschrift die Bürger der Altstadt „zur Ehre und zum Ruhm ihrer Bewohner“ selbst. Vorbild für den neuen Turm sollte der Altstädter Brückenturm sein. Die Leitung der Bauarbeiten war zunächst einem gewissen Meister Václav anvertraut, über dessen Wirken weiter nichts bekannt ist. Er scheint jedenfalls kein sehr fähiger Baumeister gewesen zu sein, wie aus dem Fortschritt der Arbeiten am Pulverturm und aus Nachrichten über die Zusammenarbeit mit Matyáš Rejsek zu schließen ist. Diesen bis dahin noch unbekannten Künstler hatten die Stadtherren in der zweiten Jahreshälfte 1476 mit der Herstellung der figürlichen und ornamentalen Dekoration des Turms beauftragt.

Rejsek hatte als Bachelor nicht einmal seine Studien beendet, muss aber sehr selbstbewusst gewesen sein und die Stadtväter durch sein Auftreten ziemlich beeindruckt haben. Denn etwa zwei Jahre später stellte er sich vor den versammelten Ratsherren gegen den Bauleiter und seinen Vorgesetzten Václav, legte die Mängel von dessen Bauleitung bloß und erbot sich, „alles selbst besser zu Ende zu führen als jener Meister“ – so das Protokoll. Daraufhin musste Václav auf einen entsprechenden Ratsbeschluss hin die Leitung des Baus seinem „sehr geistvollen und nachdenklichen“ Konkurrenten überlassen.

Der Rat hatte nicht aufs falsche Pferd gesetzt. Das erwies sich später, als Rejsek den schon unter Peter Parler und seinem Sohn Jan begonnenen Bau des Doms der heiligen Barbara in Kuttenberg in entscheidender Weise fortzuführen vermochte. Die mannigfachen Elemente spätgotischer Ornamentkunst, die charakteristischen Gewölbe­rippen und das filigrane Stützpfeilersystem stammen von ihm und verleihen der Basilika ihre noch heute bewunderte einzigartige Prägung. Rejsek starb 1506 in Kuttenberg, im Barbaradom liegt er begraben.

Dach und Kuppel des benachbarten Gemeindehauses

Aufmüpfige Bürger
Dem Pulverturm oder dem „Neuen Tor“, wie der Bau bis Anfang des 18. Jahrhunderts zur Unterscheidung von dem noch eine Weile vor sich hin bröckelnden Bergtor genannt wurde, war trotz des beherzten Einsatzes von Rejsek vorerst wenig Glück beschieden. Einen wichtigen Einschnitt brachten die blutigen Unruhen in den Prager Städten von 1483, deren bekanntestes Ereignis der zweite Prager Fenstersturz war und in deren Folge die utraquistische Seite gegenüber den Papsttreuen wieder die Oberhand gewann. Dieser Umschwung der Kräfteverhältnisse veranlasste den katholischen König Vladislav II. dazu, mit seinem Hof nach einigen Monaten sorgenvollen Abwartens im nahen Kuttenberg seiner eigenen Sicherheit zuliebe sowie von den aufmüpfigen Bürgern enttäuscht wieder auf die Prager Burg zu ziehen.

Damit verlor der Königshof seine bisherige Bedeutung und dem Turm, der ein provisorisches Dach erhielt, schien ein unrühmliches Ende beschieden. Wann genau die Arbeiten am Turm eingestellt wurden, ist nicht überliefert. Jedenfalls war sein Bau bei Weitem noch nicht beendet, als Rejsek 1489 in Kuttenberg seine Arbeit am Barbaradom aufnahm. Nicht einmal alle bis dahin von Rejsek fertiggestellten Figuren und anderes Schmuckwerk waren auf den dafür vorgesehenen Konsolen oder in den vorbereiteten Nischen angebracht. Manche seiner Steinmetzarbeiten, die sich oft nur als Torso erhalten haben, lassen dennoch erkennen, wie er sich von den herkömmlichen Pflanzenornamenten zu lösen und mit allegorischen Darstellungen die Funktion des Turmes als Teil des Herrschersitzes zu unterstreichen bestrebt war.

In den nun folgenden 400 Jahren bis ins späte 19. Jahrhundert war die wichtigste Veränderung der neue Zweck des Turmes: Um 1715 beschloss die Bürgerschaft der Altstadt, den zwar unfertigen, aber doch mit seinem starken Mauerwerk stabilen Bau zur Aufbewahrung von Schießpulver zu nutzen. Seither trägt er die Bezeichnung Pulverturm. Wie viele andere Bauwerke litt auch der Pulverturm unter der Beschießung der Stadt durch die preußische Artillerie im Jahre 1757. Zum Glück flog das explosive Lagergut jedoch nicht in die Luft. Die Schäden waren vornehmlich äußerlich. Das noch vorhandene Dekor des Turms drohte durch den Zahn der Zeit, dem der preußische Beschuss mächtig nachgeholfen hatte, nach und nach herunterzufallen, so dass die Stadt zum Schutz der Passanten allen vorstehenden und brüchigen Zierrat, „diesen wert- und nutzlosen eitlen Tand“, vorsorglich beseitigen ließ.

Sein heutiges Aussehen erhielt der Pulverturm erst in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts, nachdem Josef Mocker 1878 den Auftrag zur Generalüberholung des Turms erhalten hatte. Der Architekt der Neugotik hat sich in- und außerhalb von Prag in vielen Bauwerken verewigt. Am bekanntesten sind der Weiterbau des Veitsdomes auf der Prager Burg, der Umbau der Burg Karlstein, die Restaurierungen der beiden Türme der Karlsbrücke sowie des Heinrichsturms im gotischen Stil und die neugotische Umgestaltung der Peter-und-Paul-Kirche auf dem Vyšehrad; auch Arbeiten am Barbaradom in Kuttenberg und am Wiener Stephansdom sind mit seinem Namen verbunden.

Mocker galt als Purist der Gotik. Wäre es nach ihm gegangen, sähe der Veitsdom heute ganz anders aus: Der barocke Helm des Südturms wäre abgetragen und der mächtige, noch im Mittel­alter errichtete Torso im gotischen Stil zu einem viel höheren Turm vollendet worden, ähnlich etwa dem Turm des Wiener Stephansdoms. Kein Wunder also, dass Mocker bei der Restaurierung des Pulverturms manche späteren Veränderungen rückgängig machte (zum Beispiel ein Renaissanceportal an der westlichen Front des Turms) und durch gotische Bauelemente ersetzte, aber auch versuchte, die Ausschmückung des Turms im Sinne seines berühmten Vorgängers Rejsek fortzuführen und zu ergänzen. Wie für Rejsek diente der Altstädter Brückenturm auch für Mocker als wichtigste Quelle der Inspiration.

Blick vom Pulverturm auf den Laurenziberg, das Kloster Strahov und die Türme der Altstadt

Beginn des Krönungswegs
Der figürliche Schmuck stammt fast ausschließlich aus den Werkstätten der vorzüglichsten Prager Bildhauer um 1900. An den Stirnseiten zum Platz der Republik und zur Zeltnergasse hin sind in Höhe des ersten Stockwerks Statuen böhmischer Herrscher (Karl IV., Přemysl Otakar II., Vladislav II. und Georg von Podie­brad) jeweils mit den Wappen der von ihnen beherrschten Länder angebracht. Die Ecken schmücken allegorische Darstellungen der Herrschertugenden: Kraft, Weisheit, Gerechtigkeit und Geduld. Ein Stockwerk höher sind Figuren der Schutz­heiligen des Landes zu sehen: Adalbert, Cyrill und Method, Prokop, Veit, Wenzel, Ludmila und Sigismund. Zudem sind dort Statuen von Christus und der Jungfrau Maria aufgestellt.

Weitere von Mocker bewirkte Veränderungen sind die gotischen Rippengewölbe über der Tordurchfahrt und im ersten Stockwerk, ferner in 44 Metern Höhe eine umlaufende Galerie, die man nach insgesamt 186 Treppenstufen, teils aus Stein, teils aus Holz, erreicht. Schließlich ist ihm das etwa 20 Meter hohe Zeltdach zu verdanken, das für viele Prager Türme charakteristisch geworden ist. Die Mühe des Aufstiegs zur Galerie lohnt sich. Von ihr bietet sich insbesondere in westlicher Richtung ein atemberaubender Blick über die Altstadt hinweg bis zur Prager Burg, zum Kloster Strahov und zum Aussichtsturm auf dem Laurenziberg.

Ungewöhnlich ist der Blick herab auf das verschachtelte Dach des Gemeindehauses. In den Gebäuden des früher dort befindlichen Königshofs fanden später und nach entsprechenden Umbauten sukzessiv ein erzbischöfliches Seminar, eine Kaserne und eine Kadettenanstalt Platz. Schließlich fiel der ganze Komplex für den Neubau des Gemeindehauses der Spitzhacke zum Opfer. Seit 1912 zieht es als eine der schönsten Schöpfungen des Prager Jugendstils die Besucher ebenso an wie der Pulverturm, der Ausgangspunkt des Krönungswegs der böhmischen Könige. Matyáš Rejsek steht in seinem schlichten Arbeits­kittel in einer Nische an der dem Pulverturm zugewandten Ecke des Gemeindehauses. Befriedigt scheint er sein erstes Meisterwerk zu betrachten, das seinen Ruhm begründete.