„Ein schlechter Tag zählt nicht“

„Ein schlechter Tag zählt nicht“

Mit dem „Cirk La Putyka“ reist Akrobat Daniel Komarov um die Welt – und wächst dabei über sich selbst hinaus

19. 12. 2012 - Text: Lisa BöttingerText: Lisa Böttinger; Foto: Pavel Kolský

Daniel Komarov lockert seine Fliege. Das gleißende Scheinwerferlicht treibt ihm den Schweiß auf die Stirn. Zwei junge Mädchen kreischen, als Daniel sich mit einem Ruck das weiße Hemd vom Leib reißt und flugs aus Pluderhose und Socken steigt. Tief atmend, wie befreit, steht der 25-Jährige inmitten der halbrunden Bühne und zuckt nur hin und wieder zu sporadisch eingespielten Musikfetzen. „Für den Spaßfaktor haben wir schon jemanden im Ensemble, du bist für den Sex“ – das hat Maxim Komaro, der finnische Regisseur von „Slapstick Sonata“, Daniel schon bei den ersten Proben zur neuen Show der tschechischen New-Circus-Gruppe „Cirk La Putyka“ gesagt. Als Daniel das erzählt, zieht sich sein linker Mundwinkel weit in Richtung Ohr zu einem schiefen Grinsen, er blickt kurz zu Boden. „Ich wollte gerne der Boss sein, einen richtig starken Mann spielen“, erinnert er sich an die Rollenverteilung zu „Slapstick Sonata“ – einer Mischung aus Stummfilm, Akrobatik und Comedy, die sechs Künstlerinnen und Künstler seit März 2012 einem weltweiten Publikum präsentieren.

Dass Kunst keine lauten Töne braucht, beweist auch Daniel, der immer noch einer Marmorbüste ähnlich ins Publikum blickt. „Ach, der fängt jetzt sicher an zu breakdancen“, flüstert eine Frau in der zweiten Reihe, nachdem wieder eine Klangsequenz Daniels durchtrainierten Körper zum Erbeben gebracht hat. Aber seine Choreografie geht weit über den lässigen Streetdance hinaus: Hinein in die Stille erklingt Bachs Badinerie, gibt den Takt an für Daniels rasantes Ballettsolo, das bald Elemente moderner Sportakrobatik einschließt und den jungen Akrobaten schließlich einige elegante Drehungen auf Händen und Hintern vollziehen lässt. Tosender Applaus schließt seinen Auftritt ab. Ein Akrobat in bedruckten Boxershorts und zu Bach? „Die Szene ist natürlich ironisch, und sie bringt meine Persönlichkeit ganz besonders zum Ausdruck. Das ist eine ganz neue Art, Sportakrobatik auf die Bühne zu bringen – sie mit New Circus zu vereinen, bereitet mir riesige Genugtuung“, erklärt Daniel mit fester Stimme. Dass er 2009 zum „Cirk La Putyka“ kam, ist für den gebürtigen Liberecer noch immer ein Geschenk. Sydney, Shanghai, Sarajevo – „wir haben viele Freiheiten“, beschreibt Daniel sein Leben auf den Bühnen der Welt. Doch dafür geht er Kompromisse ein: „Gerade jetzt ist wieder so eine typische Situation: Es ist kurz vor Weihnachten – und wir sind nicht bei unseren Familien.“

Architekt und Baustein
In seinem gelben Kapuzenpulli sieht Daniel aus wie ein junger Student, von Bühnenzauber keine Spur. Sein rotes Samtjackett aus der Show hängt längst wieder in der Garderobe. Ob er damit auch ein Stück seiner Persönlichkeit kurzzeitig in den Schrank sperrt? „Auf der Bühne schlüpfe ich schon in eine Rolle – aber den Chef zu mimen, das kommt mir nahe“, lacht der Sportprofi und lehnt sich zufrieden auf der Couch zurück. Auch wenn Daniel in „Slapstick Sonata“ eine Art Chefarchitekten spielt, der das muntere Treiben seiner Kameraden – waghalsiges Hantieren mit langen Holzscheiten, die gefährlich wackelnd als Aussichtsturm dienen, Balanceakte in schwindelerregender Höhe und Hochsprungakrobatik – im Auge behält, auf der Bühne ist jeder der sechs Künstlerinnen und Künstler gleichsam unentbehrlich. „Es ist die erste Show des Cirk La Putyka, bei der weniger als zehn Akteure auftreten – und das ist gut so. Zwischen uns besteht eine sehr enge Verbindung“ – kein Wunder, verbringen Daniel, Jiří, Anna, Vojtěch, Michal und Šárka doch fast jeden Tag gemeinsam. Allein zwei bis drei Stunden trainiert die Gruppe täglich am „Sprungbrett“, einer Art Wippe, von der sich ein Akrobat durch das schwungvolle Aufspringen eines Zweiten auf der gegenüberliegende Seite in die Höhe schleudern lässt – und das nicht nur einmal. Im Finale des Stücks inszeniert das Ensemble eine Art Feuerwerk aus fliegenden Körpern, die sich drehen, überkreuzen und zwischendurch schier unsichtbare Signale erteilen: „Es funktioniert alles nur mit höchster Konzentration und völliger Fokussierung. Jeder ist auf den Anderen angewiesen – ein schlechter Tag zählt da nicht“, erklärt Daniel und presst seine Fingerspitzen vor der Brust aneinander.

Es ist kurz nach der Premiere von „Slapstick Sonata“ in München, die Gäste des „Tollwood Winterfestivals“ tummeln sich noch im Foyer des großen Zirkuszeltes. Daniels Kollegen nippen schon an ihren Sektgläsern. Shows, schöne Frauen und Schampus hinter den Kulissen – ist das nicht ein Leben? „Wir sind alle überglücklich, dass wir Zirkusartisten sein dürfen. Jede Nacht feiern geht aber keineswegs – wir brauchen unseren Kopf jeden Tag und müssen körperlich in Topform sein. Im Gegensatz zu anderen Leuten, die in ihrem Job viel reisen und das als harte Arbeit empfinden, ist das Touren für uns aber oft wie ein Urlaub mit Freunden“, erklärt Daniel.

Zuhause im „New Circus“
„Ich bin in diesen Zirkus aus Sportakrobatik einfach so hineingeraten“, erinnert sich Daniel, „aber solange die Leute uns sehen wollen, werde ich nichts anderes mehr tun“, resümiert er schließlich. Eines Tages selbst Regisseur sein – am liebsten einer Zirkus-Komödie – das könnte sich der junge Tscheche vorstellen. Wenn es geht aber nicht in seiner derzeitigen Heimat Prag. „Ich komme mir dort manchmal vor wie ein Fremder“, gibt Daniel erschrocken zu. Als hätte er etwas Falsches gesagt, kratzt er sich verlegen über die blonde Kurzhaarfrisur. Bietet die Goldene Stadt mit ihren „Putykas“ – der Name stehr für eine typisch tschechische Kneipe – nicht genug Inspiration für einen Akrobaten? „Es ist einfach nicht wie in anderen Großstädten auf der Welt – die Leute in Prag haben keine Zeit, sie sind nicht offen genug“. Die Worte von Regisseur Komaro hat er verinnerlicht. „Maxim hat mir immer gesagt: Hör auf zu spielen, sei du selbst, sei cool, sei nicht gekünstelt“. Was auf der Bühne hilfreich sein kann, schätzt Daniel aber auch im Umfeld der weltweiten „New-Circus-Community“ – Ensembles aus allen Erdteilen verschreiben sich mittlerweile der virtuosen Körperkunst aus Tanz, Akrobatik und Slapstick. „Manchmal fühle ich mich schon ein bisschen seltsam, wenn wir unterwegs große Ensembles zum Beispiel aus Frankreich treffen, die einen Namen und eine lange Tradition führen“, erklärt er nachdenklich. Bis der „Boss“ in ihm wieder erwacht: „Wir stehen ganz am Anfang. Aber ich bin sicher, wir sind auf einem guten Weg!“ Die internationale Gemeinschaft stiftet auch Zuversicht: „In dieser Welt scheint einfach alles möglich. Die New-Circus-Leute sind wahnsinnig aufgeschlossen, sie haben Spaß und helfen sich gegenseitig“, berichtet Daniel von seinen Reisen um den Globus. Die blauen Augen leuchten jetzt. Entspannt lässt sich der junge Mann, aus dem nun endgültig das Adrenalin der Bühne weicht, in das Polster sinken – bis ihn der Blickkontakt mit seiner Truppe wieder nach vorne schnellen lässt. Auch wenn der Vorhang gefallen ist, kann Daniel seinen Job als „Spotter“ nicht einfach ruhen lassen. Die Hab-Acht-Stellung, aus der ein solcher den akrobatischen Sprung des Kollegen genau beobachtet und ihn gegebenenfalls bei der Landung stützt, ist kurz nach Mitternacht einer freudigen Geselligkeit gewichen, in der die Truppe von „La Putyka“ beisammensteht. „Wir müssen immer in Verbindung stehen, sonst ist das sehr gefährlich!“ Das hat Daniel eigentlich auf die Abläufe der Performance bezogen. Das Akrobatenleben endet aber nicht mit dem großen Schlussapplaus. Der scheint für Daniel höchstens ein Warm-Up zu sein.

 

Der „Cirk La Putyka“
„Gibt es eine Sucht nach dem Risiko?“ Diese Frage stellt „RISK“, die neueste Show des jungen New-Circus-Ensembles „Cirk La Putyka“ aus Prag. Eine Antwort darauf geben die Artisten der Gruppe in ihren waghalsigen Performances. Das Genre der zeitgenössischen Zirkuskunst umfasst ein neues Verständnis des Show-Events, das an Clowns in der Manege nur noch im Entferntesten erinnert. Stattdessen treten bei „La Putyka“ – die „Kneipe“ – professionelle Akrobaten, Tänzer und Slapstick-Comedians auf. 2009 unter seinem Direktor Vít Novák gegründet, beschäftigt das Ensemble heute rund 20 Künstler, die vier Shows abwechselnd in der Prager „La Fabrika“ (Komunardů-Straße 30, Prag 7) und auf weltweiten Festivals vorführen. Derzeit ist der „Cirk La Putyka“ noch bis zum 22. Dezember mit der tschechisch-finnischen Koproduktion „Slapstick Sonata“ auf dem Münchener Tollwood-Festival zu sehen, ab 10. Januar spielt die Truppe wieder in Prag.

Infos und Tickets unter www.laputyka.cz