„Die Tschechen sollten nicht geschichtsblind sein“

Migrationsexperte Jochen Oltmer warnt vor allzu einfachen Erklärungsversuchen und erinnert an die Flüchtlinge des 19. und 20. Jahrhunderts

24. 2. 2016 - Interview: Klaus Hanisch, Fotos: privat, Dragan Tatic/BMEIA/CC BY 2.0

Seit dem Zweiten Weltkrieg war die Zahl der Flüchtlinge noch nie so hoch wie derzeit. Laut den Vereinten Nationen gibt es weltweit rund 230 Millionen Migranten; 60 Millionen davon fliehen vor Krieg und Unterdrückung – die meisten allerdings in ihren eigenen Ländern. Lediglich 14 Prozent sind auf der nördlichen Halbkugel unterwegs. Schon seit 25 Jahren untersucht das Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück die vielfältigen Aspekte von räumlicher Mobilität und interkultureller Begegnung. Sowohl früher als auch heute. Professor Jochen Oltmer lehrt dort von Beginn an.

Im vergangenen Jahr bezeichnete Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) die steigende Zahl von Flüchtlingen als eine neue „Völkerwanderung“. Trifft das die Realität?
Jochen Oltmer: Mit diesem Begriff wäre ich vorsichtig. Damit werden Bilder aufgerufen, die sich auf spätantike oder frühmittelalterliche Völkerwanderungen beziehen. Nämlich Bilder von wilden und unkontrollierbaren Horden von Barbaren, die auf die römische Zivilisation zuströmen und am Ende dazu beitragen, dass diese Zivilisation untergeht. Es besteht keine Notwendigkeit, solche Bilder aufzurufen. Damit wird Stimmung gemacht.

Die aktuelle Flüchtlingswelle wird also nicht die EU zerstören, wie europaskeptische Politiker bereits spekulieren?
Die Staaten der Europäischen Union streben danach, möglichst grenzüberschreitend und weltweit wirtschaftlich aktiv zu sein. Und sie wünschen sich Freizügigkeit für ihre eigene Bevölkerung, die überall hinreisen will und überall arbeiten können soll. Doch das kann nicht nur in eine Richtung funktionieren.

Tschechiens Präsident Miloš Zeman sagte in seiner Weihnachtsansprache, dass sein Land das Land der Tschechen sei und nicht das für andere. Können sich einzelne Staaten überhaupt dauerhaft gegen den Flüchtlingsstrom abschotten?
Nein, das können sie nicht. Wir leben nicht erst seit gestern oder vorgestern in einer Welt, die sehr stark von Migration geprägt ist. Wenn ich mir die tschechische Geschichte anschaue, sehe ich einen hohen Stellenwert von Migration in den tschechischen Raum hinein, aber auch heraus. Man sollte sich nur an die vielen Tschechen erinnern, die im 19. und frühen 20. Jahrhundert in die USA abgewandert sind. Oder an die Flucht nach 1938. Ich denke auch an 1968 und die Abwanderung von vielen Tausenden aus der Tschechoslowakei nach dem Prager Frühling, die in Westeuropa und den USA Schutz gesucht haben. Auch für Tschechen ist Migration ein Normalfall ihrer Geschichte. Nur wenn man geschichtsblind ist, kommt man zu der Auffassung, Migration ginge einen nichts an.

Staaten definieren Migration vor allem als Folge von Krisen und als Gefahr für Sicherheit und Wohlstand. Birgt Migration mehr Risiken als Chancen?
Das kommt auf die Konstellation an. Pauschale Urteile sind in der Regel falsch. Wir erkennen aber häufig sehr positive Auswirkungen durch Migrationsbewegungen. Weltstädte wie New York, Tokio oder London sind zum Beispiel sehr stark durch Migration, Austausch und Heterogenität geprägt. Und gerade sie sind für einen großen Teil der weltweiten Wirtschaftsleistung verantwortlich. Zuwanderung und Vielfalt schaffen eine spezifische Atmosphäre. Austausch und Offenheit haben sehr produktive Folgen.

Warum erzeugt Migration dennoch bei vielen Menschen vor allem Angst und fördert Nationalismus?
Gerade Vorstellungen wie die von einer einheitlichen tschechischen Nation sind in dieser Hinsicht problematisch. Denn das „Wir“ führt zwangsläufig auch zu der Ab- und Ausgrenzung von dem Anderen, dem Fremden. Solch schlichte Vorstellungen von „wir“ und „sie“ bringen uns nicht weiter. Zumal viele Menschen eine Gesellschaft als einen Verteilungskonflikt verstehen, in dem um knappe Güter, Arbeit, Wohnung, politische Teilhabe oder Sozialleistungen gekämpft wird. Wir sehen aber, dass Zuwanderung in der Regel eher Produktivitätseffekte als Konkurrenz bringt.

Warum tun sich Tschechien und die anderen osteuropäischen Staaten so schwer mit Migration – sind tatsächlich nur mangelnde Erfahrung und die Angst vor dem Fremden die Gründe dafür?
Mangelnde Erfahrung ist sicher nicht unwichtig. Tatsächlich haben sich Staaten wie Tschechien, Polen und Ungarn in den letzten Jahrzehnten als Auswanderungsländer gesehen. Speziell seit 1990. Aber in den vergangenen Jahren gewann auch Zuwanderung an Bedeutung. Parteien und Politiker setzen aktuell ganz auf die Karte „politische Homogenität“ und machen „eine tschechische Nation“ populär. Das hat wiederum mit Ängsten zu tun. Nämlich mit denen vor einer Welt, die zunehmend unüberschaubarer erscheint und durch Bedrohungen gekennzeichnet ist. Seit der Wirtschaftskrise von 2007/08 und der Gefährdung von Existenzen scheint manchem eine Rückbesinnung auf feste Vorstellungen und Werte nötig, um die Nation zusammenhalten zu können. Und es ist nicht zuletzt ein Kampf der Generationen – zwischen politisch Verantwortlichen in eher fortgeschrittenem Alter und jungen Menschen, die Erfahrungen durch Tourismus, Auslands- und Studienaufenthalte haben und wenig mit Vorstellungen von eng geschlossenen Gemeinschaften anfangen können.

Präsident Zeman lässt sich nicht davon abbringen, dass die Muslimbruderschaft die Migration wie eine Invasion organisiert und damit Europa unterwandern will. Gab es solche Verschwörungstheorien schon früher oder machte erst Zeman sie zu einer Mode­erscheinung?
Verschwörungstheorien gibt und gab es immer wieder. Das sind sehr schlichte Erklärungsversuche in einer sehr komplexen Welt, die verfangen, weil sich Menschen auf möglichst einfache Erklärungen einlassen. Aber wer sich je mit Migration beschäftigt hat, der weiß, wie wenig sich solche Bewegungen tatsächlich lenken lassen. Sie finden vor allem deshalb statt, weil Menschen den Eindruck haben, andernorts bessere Chancen auf Bildung oder Arbeitsmöglichkeiten zu besitzen. Dabei geht es um individuelle Vorstellungen und nicht um eine Lenkung durch irgendwelche Magier.

Die Slowakei will, wenn überhaupt, nur Christen aufnehmen und keinesfalls Moslems. Wie weit beeinflusste religiöse Zugehörigkeit in der Geschichte die Migration und Integration?
Weitaus wichtiger als Konfession und Religion sind Netzwerke. Die Bewegung von Menschen findet meist in von Verwandtschaft, Bekanntschaft und Freundschaft geprägten Netzwerken statt. Menschen gehen in der Regel nicht in eine Region oder in Staaten, die sie überhaupt nicht kennen, sondern folgen vertrauenswürdigen Informationen. Die erhalten sie nicht übers Fernsehen oder Radio, sondern durch Verwandte, Bekannte, Freunde. In diesem Kontext können religiöse Bindungen eine Rolle spielen, weil diese Netzwerke auch durch religiöse Zugehörigkeiten geprägt sind. Ob dies positiv oder negativ ist, kann man grundsätzlich nicht beantworten. Kirchen und religiöse Gemeinschaften sind für Migranten aber oft wichtige Helfer und Ansprechpartner, die einen Schutzraum bieten und das Ankommen erleichtern. Das führt aber nicht zwangsläufig zu einer Parallelstruktur, denn die Kirchen und Moscheen gibt es oft schon seit Jahrzehnten als Teil der Gesellschaft im Zielland. Dadurch sind sie eine wichtige Brücke für die Integration.

Flüchtlinge an der mazedonischen Grenze im August 2015

Erleben wir gerade trotzdem eine andere Form der Migration, weil sie besonders nach den Attentaten von Paris mit einer Bedrohung durch den islamistischen Fundamentalismus gleichgesetzt wird?
Der Terror in Frankreich, Großbritannien oder vor zehn Jahren in Spanien hatte nach Meinung von Experten nichts mit Migration zu tun. Vielmehr wurden Menschen zu Terroristen, die in den dortigen Gesellschaften aufgewachsen sind. Dass Marokkaner oder Algerier zu Extremisten wurden, lag nicht daran, dass sie aus Marokko oder Algerien zugewandert waren, sondern dass sie in Paris oder Brüssel in Ghetto-Situationen lebten. Das ist ein europäisches Phänomen und ein Scheitern von Integration.

Deutschland hat seit Jahrhunderten Erfahrung mit Migration, nach dem Zweiten Weltkrieg auch mit Vertriebenen aus der Tschechoslowakei. Wie fällt Ihr Fazit dieser langen Erfahrung aus?
Immer erschienen Probleme, die mit Migration verbunden wurden, als sehr groß. Das war nach dem Zweiten Weltkrieg so, auch in den sechziger oder neunziger Jahren und jetzt wieder. Aus der Distanz von Jahren und Jahrzehnten relativierten sich all diese Probleme jedoch sehr, sehr stark.

Verbieten sich reine Kosten-Nutzen-Rechungen angesichts humanitärer und moralischer Aspekte?
In Deutschland weiß man im Augenblick noch viel zu wenig über die tatsächliche Flüchtlingslage. Klar ist, dass es Geld kosten wird, aber das geht ja nicht verloren, sondern ist ein Stück weit ein Konjunkturprogramm. In der Vergangenheit haben viele Bewegungen auch einen erheblichen Beitrag zu wirtschaftlichen Entwicklungen geleistet. Die Vertriebenen der Nachkriegszeit haben das deutsche Wirtschaftswunder mitgeprägt, ebenso später die zugewanderten Gastarbeiter aus südeuropäischen Ländern. Migranten suchen bessere Chancen und setzen dafür viel Energie ein. Nicht alle, aber viele von ihnen sind leistungsbereit und anpassungsfähig und besetzen damit Arbeitsplätze, die Einheimische nicht wollen. Und sie sind auch bereit, unter Bedingungen zu leben, die Einheimische nicht akzeptieren. Außerdem sind offene Gesellschaften nur dann offen, wenn es einen Austausch gibt und man aufeinander zugeht. Geschlossene Gesellschaften profitieren nicht davon – und werden damit provinziell.

Wird die Zahl der Migranten in den nächsten Jahren global weiter steigen?
Dafür gibt es keine Anzeichen. Das Niveau der globalen Migration stagniert vielmehr seit vielen Jahrzehnten. Aber es kommt zu Verlagerungen; Regionen sind mal stärker und mal schwächer von Zuwanderung geprägt. Solche mit günstiger Arbeitsmarktsituation und wirtschaftlichem Wachstum wirken anziehender als andere. Deshalb ist Deutschland seit 2009 auch jenseits der Flüchtlingswanderung das zentrale Zuwanderungsziel in Europa geworden. Viele Zuwanderer verbinden mit Deutschland eine positive Zukunft. Das ist kein Phänomen auf Dauer, sondern wird nur so lange so bleiben, bis sich die Konjunktur in Deutschland abschwächt und in anderen Ländern verbessert. Immerhin war vor 2007 Großbritannien das zentrale europäische Ziel der Migration. Und vorher Frankreich.

Werden mehr Migranten in ihrer neuen Heimat bleiben als früher – und wie verändern sie dann die Gesellschaften?
Das ist schwer einzuschätzen, weil keiner weiß, wie lange die Konflikte in Syrien oder im Irak noch andauern. Wenn sie bald enden und schnell Aufbauprogramme beginnen, kann es auch zu einer starken Rückwanderung kommen. Zwar sind sehr viele Flüchtlinge gekommen, bis sie sich aber etabliert und eine eigene Zukunft entwickelt haben, wird es viele Monate und Jahre dauern. Immer war eine Orientierung zur Rückkehr bei Flüchtlingen sehr stark ausgeprägt. Je länger aber ein Konflikt dauert, umso stärker leben sie sich in den Zielländern ein.

Die europäische Politik wirkte zuletzt konzeptlos und war zudem zerstritten. Ist trotzdem eine europäische Lösung der einzige Weg, um die Flüchtlingsströme zu bewältigen?
Europa hat sich über Jahrzehnte nicht um globale Flüchtlingsfragen gekümmert, sondern eine Kultur des Wegschauens entwickelt. Daher gibt es keine Institutionen und Strategien, es fehlen Kompetenzen und Kenntnisse im Umgang mit Flüchtlingen. Europa und Deutschland wurden 2015 schlichtweg davon überrascht, dass Flüchtlingsbewegungen auch sie treffen konnten. Dazu noch in solch hohem Maß. Nun kann es aber nicht nur um nationale oder europäische Lösungen gehen. Das ist ein globales Phänomen. Flüchtlinge leben weitaus überwiegend in der Nähe der Krisenregionen und damit zumeist in den armen und ärmsten Staaten der Welt. Wir brauchen ein globales Flüchtlingsregime. Dafür gibt es seit Jahren global agierende Institutionen wie den Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen, die aber lange allein gelassen wurden. Sie müssen endlich unterstützt und besser ausgestattet werden. Dazu gehört auch, dass Erstaufnahmeländer wie die Türkei oder der Libanon gestärkt werden. Allerdings muss sich Europa auch darauf einstellen, dass ein großer Teil der Flüchtlinge bleiben wird.