„Die Propaganda hat das Dorf gespalten“

„Die Propaganda hat das Dorf gespalten“

Als Karpatendeutscher flüchtete Walter Bistika vor der Roten Armee ins Sudetenland. Nach dem Krieg kehrte er zurück in seine Heimat. Ein Besuch im ostslowakischen Metzenseifen

20. 5. 2015 - Text: Daniela CapcarováText: Daniela Capcarová; Foto: Helmut Bistika

Fährt man von der zweitgrößten slowakischen Stadt Košice gut 30 Kilometer nach Westen, gelangt man in ein malerisches Dorf. Die aneinandergereihten Häuser zieren noch immer die großen Tore, durch die einst Pferdewagen rollten. Auf Slowakisch heißt der etwa 5.000 Einwohner zählende Ort Medzev. Geläufig ist aber auch der deutsche Name. Denn Metzenseifen ist bis heute eine Hochburg der Karpatendeutschen.  

In einem der Häuser, die noch aus alten Zeiten stammen, wohnt Walter Bistika. Der 86-Jährige beherrscht nicht nur den deutschen Dorfdialekt, den man hier „Mantakisch“ nennt. Er spricht auch Hochdeutsch, Slowakisch und Ungarisch. Nach einem Schluck Zitronenlimonade beginnt er die Geschichte seines Heimatdorfes zu erzählen: „Die ersten Siedler aus Deutschland kamen im 13. Jahrhundert, als die Gegend nach dem Einfall der Mongolen geplündert und menschenleer war.“ Die größte Blüte habe Metzenseifen Mitte des 19. Jahrhunderts durch seine Hammerwerke erreicht. „Damals belieferten unsere Schmiede ganz Ungarn und sogar Rumänien.“

Der Historikerin Soňa Gabzdilová-Olejníková zufolge lebten im Jahr 1931 etwa 147.500 Deutsche auf dem Gebiet der heutigen Slowakei. Sie machten knapp fünf Prozent der Bevölkerung aus. Im Vergleich zu den mehr als drei Millionen Sudetendeutschen in Böhmen und Mähren war das nur ein Bruchteil, und die Karpatendeutschen standen nicht so sehr untereinander in Kontakt wie die Sudetendeutschen, wie Gabzdilová-Olejníková meint: „Die Beziehungen der Karpatendeutschen zu anderen Ethnien der Slowakei beruhten auf gegenseitigem Respekt. Außerdem waren sie über das ganze Gebiet der Slowakei zerstreut – ein Teil lebte in Bratislava, ein anderer in Modra, Pezinok, etliche Karpatendeutsche gab es in Nitrianske Pravno, Kremnica, in der Zips und in der Ostslowakei.“

Für die Machtpolitik des Deutschen Reiches waren die Karpatendeutschen genauso wichtig wie die Sudetendeutschen. Wenige Tage nach dem Münchner Abkommen gründete der in Olmütz geborene Franz Karmasin am 10. Oktober 1938 in der Slowakei die Deutsche Partei, die die Interessen der Karpatendeutschen vertreten sollte. Fünf Tage später erlaubte die autonome slowakische Regierung unter dem Verbündeten Hitlers Jozef Tiso die Errichtung eines Staatssekretariats für die Angelegenheiten der deutschen Volksgruppe. Karmasin wurde zum Chef der Institution ernannt und durfte an Regierungssitzungen teilnehmen. „Die Deutsche Partei fungierte zwar offiziell im Rahmen des politischen Systems der Slowakischen Republik, ihre ganze Tätigkeit war aber direkt aus Berlin gesteuert, konkret durch den Reichsführer SS Heinrich Himmler“, schreibt Gabzdilová-Olejníková in einem Buch über die Karpatendeutschen. Durch eine Mischung aus Nazipropaganda, Aufrufen zum Gehorsam und offenen Drohungen sei es der Deutschen Partei gelungen, einen großen Teil der deutschen Bevölkerung der Slowakei für sich zu rekrutieren.

Aufträge für Parteimitglieder

Walter Bistika erinnert sich genau an diese Zeit, in der etwa 90 Prozent der Dorfbewohner Deutsche waren. „Karmasin kam direkt nach Metzenseifen. Er wurde mit Steinen angegriffen “, schildert der damals Elfjährige. Die Propaganda habe die Deutschen im Dorf gespalten. „Ein Teil der Bewohner ist in Karmasins Partei eingetreten. Die Hammerschmiede zum Beispiel bekamen mehr Armeeaufträge, wenn sie Mitglied wurden.“ In der Gegend seien aber auch die Kommunisten sehr stark gewesen, die den Partisanen-Untergrund bildeten, so Bistika. „Etwa die Hälfte der damaligen Deutschen waren Partisanen, die andere Hälfte war bei der SS. Und es gab auch Soldaten, die in der mit Hitler verbündeten slowakischen Armee dienten und an der Ostfront eingesetzt waren.“

Die Partisanengruppen unterstützten den Slowakischen Nationalaufstand und ermöglichten das Vorrücken der Roten Armee Richtung slowakische Gebiete. Nachdem der Aufstand im September 1944 unterdrückt wurde, erteilte die Regierung am 18. Oktober 1944 eine Anweisung, „laut der die Angehörigen der deutschen Minderheit in der Slowakei infolge der Bedrohung der einzelnen Teilgebiete der Slowakei durch Armeeoperationen oder auf eigenen Wunsch aus der Slowakei nach Deutschland evakuiert werden können“, so Gabzdilová-Olejniková. Die Evakuierten durften nur 30 Kilo mitnehmen, ihr übriges Vermögen mussten sie zurücklassen. Die leeren Häuser und Großgrundbesitze wurden von der slowakischen Bevölkerung besiedelt.

Auch Bistikas Familie entschied im November 1944, ihre Heimat zu verlassen. „Wir fuhren mit einem Lastwagen zuerst zum Sammellager nach Kežmarok, dann ging es weiter nach Zakopane. Von dort kamen wir nach Oberschlesien in den Kreis Grottkau, wo wir zusammen mit zehn anderen Familien bis Januar 1945 lebten.“ Als die Rote Armee weiter vorrückte, kam die Familie ins Sudetenland, nach Niklasdorf (heute Mikulovice) in der Nähe von Kláštorec nad Orlicí.  „Wir waren zusammen mit sieben deutschen Familien untergebracht, die aus der Nähe von Poprad stammten – es war erstklassig vom Roten Kreuz organisiert.“ Bald darauf gelangte die russische Armee aber auch dorthin.

Positive Bewertung

Zurück nach Metzenseifen konnte die Familie nicht, weil die Bahnbrücken überall gesprengt waren. Später wurden sie von tschechischen Behörden verhört. „Wir sollten unsere Adressen in der Slowakei angeben“, erzählt Bistika. Die Tschechen erkundigten sich in den Heimatdörfern nach dem Hintergrund der evakuierten Familien und deren Mitgliedschaft in der Deutschen Partei. „Wir durften bleiben, weil unsere Familie vom Nationalausschuss in Metzenseifen positiv bewertet wurde.“ Im Oktober 1945 fuhr die Familie mit dem Zug nach Košice. „Unsere Häuser waren konfisziert, wir hatten aber Verwandte, zu denen wir zogen.“ Nur ein Teil der evakuierten Deutschen kam zurück. Einige ältere Menschen, die nicht evakuiert worden waren, lebten noch immer in ihren Häusern. „ Im Unterschied zu anderswo hatte niemand aus den umliegenden Dörfern Interesse, unsere Häuser zu besetzen. Aufgrund der guten Beziehungen zu den Slowaken und Ungarn kam es zu keinen Reibereien“, sagt der 86-Jährige. Dass seine Familie währen des Krieges evakuiert wurde, sei Glück gewesen. „Aus Metzenseifen wurden im Februar 1945 etwa 150 Frauen von den Russen unter einem Vorwand in Lager verschleppt. 50 von ihnen sind im Gulag gestorben. Es wurde ein Verzeichnis der unerwünschten  Deutschen aufgestellt. SS-Angehörige waren nicht darunter, denn diese waren zu der Zeit in Gefangenschaft.“  

Ende 1946 verließen nach Angaben von Gabzdilová-Olejníková etwa 32.400 Karpatendeutsche die Slowakei. Auch aus Metzenseifen wurden Deutsche abgeschoben. Sie kamen zuerst nach Nováky ins Sammellager – von dort ging es entweder in die sowjetische oder die amerikanische Besatzungszone, einige landeten auch in Österreich. „Viele von unserem Dorf konnten der Aussiedlung aber ausweichen, weil sie sich in den umliegenden Dörfern bei Slowaken oder Ungarn versteckt haben. Es gab immer jemanden, der etwas durchsickern ließ, wenn eine Militär- oder Polizeiaktion bevorstand.“ Von der einstigen deutschen Bevölkerung seien vielleicht 40 Prozent geblieben, meint Bistika. Für die sei es zwar nicht einfach gewesen nach dem Krieg. „Meine Familie ist dennoch zum Schluss gekommen, dass es gut war, dass wir nach 1946 hier geblieben sind.“ Schließlich seien Flüchtlinge aus Osteuropa auch in Deutschland nicht überall willkommen gewesen, sagt der Mann, der im Sozialismus als Buchhalter arbeitete und mit den Aussiedlern in Deutschland noch regen Briefverkehr hat. Deren Kinder interessierten sich nicht mehr für die Wurzeln ihrer Eltern, klagt Bistika.

Seine Tochter und seine Enkelkinder sprechen Deutsch und verstehen den Dialekt, der in Metzenseifen gesprochen wurde. Während Walter Bistika erzählt, setzt sich sein Neffe Helmut an den Tisch. Er ist Künstler und bezieht in seine Arbeiten oft Dialekt-Wörter ein. „Mir ist bewusst, dass er aus unserem Alltagsleben hier fast verschwindet.“ Deshalb kombinierte er in einem seiner jüngsten Werke mantakische Gedichte mit abstrakter Malerei. Helmut Bistika hat bereits in Berlin, Essen, Düsseldorf und Hamburg ausgestellt. Die Überschneidung mehrerer Kulturen in Košice und Umgebung nimmt er positiv wahr. Wie sein Neffe empfindet auch Walter Bistika das Leben in der Ostslowakei als eine Bereicherung. Allerdings bedauert er, dass die Zahl der Karpatendeutschen im Dorf in den vergangenen 25 Jahren gesunken sei – laut einer Volkszählung von etwa 18 auf gut acht Prozent. „In der Schule finden sich in Metzenseifen keine Kinder mehr, die untereinander mantakisch sprechen“, sagt der Rentner. „Für diese Gegend ist das schon ziemlich traurig.“