Die Poesie des Alltags

Die Poesie des Alltags

Im Haus der Fotografie erzählen die Bilder von Iren Stehli die Geschichte einer Romni in der Tschechoslowakei

27. 10. 2015 - Text: Alena GoldText: Alena Gold; Foto: Iren Stehli

 

Mit 19 Jahren taucht Iren Stehli in eine neue Welt ein. Die 1953 in Zürich geborene Tochter eines Schweizers und einer Tschechin verlässt ihre Heimat und geht nach Prag. An der Karls-Universität will sie die Sprache ihrer Mutter studieren. Die fremde Stadt fasziniert sie so sehr, dass Stehli sie mit ihrer Kamera einzufangen beginnt. So entstanden im Laufe der Zeit fotografische Essays, die das Leben in der sozialistischen Tschechoslowakei widerspiegeln.

Mit „Libuna und andere Essays“ präsentiert das Haus der Fotografie nun einen Ausschnitt aus Stehlis Lebenswerk. Neben Aufnahmen von Straßen, Schaufenstern und Interieurs ist die Langzeitstudie über die Romni Libuna zu sehen. Über drei Jahrzehnte hinweg begleitete Stehli die in Prag lebende Frau. Dabei blieb die Fotografin nicht nur außenstehende Beobachterin, sondern wurde zur Vertrauten und Freundin, die Libuna in Höhen und Tiefen zur Seite stand. Die sensiblen Bilder geben dem Betrachter einen eindrucksvollen Einblick in den Alltag der Romni.

Stehli war Libuna zufällig während ihres Fotografie-Studiums an der Akademie der Musischen Künste begegnet. Die damals 19-Jährige und ihre Mutter putzten den Schlafsaal, in dem Stehli als Studentin untergebracht war. Beide baten sie darum, von ihr abgelichtet zu werden. Beeindruckt von ihrer Stärke und Schönheit entschied sich Stehli, ihr auch im Alltag zu folgen.

Die ersten Bilder von Libuna zeigen eine aufgeweckte und lebenshungrige junge Frau in ihrer Traumwelt. Später werden die Aufnahmen ernüchternder. Sie dokumentieren ihr anfängliches Eheglück, die wachsende Familie, aber auch die Eheprobleme und Zwangsumzüge. Behutsam erzählen sie von der Haftstrafe ihres Mannes, seiner vorzeitigen Entlassung, weiteren Kindern und Enkelkindern, erneutem Streit und schließlich der Scheidung. Am Ende zeigen die Fotografien Libunas letzte Lebensjahre in Belgien. Dort heiratete sie ein zweites Mal. Knapp zwei Jahre nach der Hochzeit erlag sie mit 53 Jahren ihrem Krebsleiden.

Die Ausstellung ist auf zwei Ebenen aufgeteilt. Dadurch erfolgt eine klare Trennung zwischen der sehr persönlichen Geschichte über Libuna und den minimalistischen Stillleben und Straßenaufnahmen.
Trotz der thematischen Gegensätzlichkeit ist ihnen die Nähe gemeinsam, die die Künstlerin zu den Objekten vor ihrer Linse aufbaut. Stehlis Ausdrucksformen gehen über ein reines Dokumentieren hinaus; sie verraten ein Gespür für den Moment und das, was im Menschen vorgeht.

Libuna und andere Essays. Dům fotografie (Revoluční 5, Prag 1), geöffnet: täglich außer montags 10 bis 18 Uhr, donnerstags bis 20 Uhr, Eintritt: 120 CZK (ermäßigt 60 CZK), bis 24. Januar, www.ghmp.cz

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