Die Falten der Beständigen

Die Falten der Beständigen

Im Dreiländereck Deutschland, Polen und Tschechien bilden Umgebindehäuser einen architektonischen Mikrokosmos. Vereine kämpfen gegen den Verfall. Ein Streifzug durch vier Jahrhunderte

27. 2. 2013 - Text: Linda LorenzText: Linda Lorenz; Foto: privat

Eingebettet in ostsächsische, niederschlesische und nordböhmische Täler schlummert seit rund 400 Jahren eine Häuser-Kultur, die in weiten Teilen Europas unbekannt ist: die Umgebindehäuser. Umhüllt von sanften Mittelgebirgsketten schmücken sie die Dörfer und weiten Wiesen mit ihrer einzigartigen Architektur. Während junge Menschen die Gebiete im Dreiländereck verlassen und sich die Dagebliebenen neue Häuser bauen, statt die historischen zu restaurieren, sinkt der Bestand der erhaltenen Bauten beträchtlich. Im Hauptverbreitungsgebiet Oberlausitz-Niederschlesien und Nordböhmen sowie im Elbsandsteingebirge existieren insgesamt noch etwa 19.000 Gebäude. Annähernd so viele gab es im 18. und 19. Jahrhundert allein in der Oberlausitz. Auch in Gebieten wie Ostpreußen, Ungarn, Rumänien oder Jütland in Dänemark fand man vor rund hundert Jahren noch vereinzelte Umgebindehäuser.

Obdach für Pilgerer
Es gibt Menschen, die den einmaligen Wert dieser Häuser erkannt haben und sich für deren Erhalt einsetzen. Der grenzübergreifend arbeitende Verein Pilgerhäusl zum Beispiel. In Zusammenarbeit mit dem Landkreis Görlitz und der Bezirksverwaltung Liberec hat es sich der Zusammenschluss zum Ziel gemacht, ein historisches Umgebindehaus in Hirschfelde vor dem Verfall zu retten. Der Ort gehört zur ehemaligen Kreisstadt Zittau und liegt nahe der polnischen Grenze. An der kleinen katholischen St.-Konrad-Kirche  steht das 300 Jahre alte ehemalige Pfarramt und Wohnstallhaus. Hier lebten zunächst ein Küsterehepaar und zuletzt ein Kaplan. 18 Jahre lang stand das Haus leer, bis der Verein im Jahr 2010 mit seiner Rekonstruktion begann.

Seitdem arbeitet die Gemeinschaft akribisch an einer Erhaltung des historischen Baustils. Jeannette Gosteli leitet die Geschäftsstelle der seit 2002 bestehenden Umgebindeland-Initiative, die sich für den Erhalt der Umgebindehäuser einsetzt. Dabei verfolgt sie mit den Partnern, dem Kreis Liberec und  Görlitz, drei Ziele: Zum einen planen und organisieren sie die Sanierung des Hauses. Im Januar dieses Jahres erschien in diesem Zusammenhang der zweisprachige Bildband „Verliebt ins Umgebindeland“. Diese Monografie beschreibt illustrativ das Leben in den Umgebindehäusern innerhalb des Dreiländerecks.

Als zweites Vorhaben nennt Gosteli den Jakobsweg, dessen Route auch zwischen Görlitz, Zittau und Prag verläuft. „Das ist uns das Wichtigste an diesem Projekt“, sagt sie. Das sogenannte Pilgerhäusl soll nach Fertigstellung ein Obdach für Pilger werden. Daher stammt auch die Bezeichnung des Gebäudes. Im Obergeschoss werden elf Pilgerschlafstätten errichtet sowie eine kleine Wohnstube, die ein „Wohnen auf Probe“ ermöglicht. Im Erdgeschoss entsteht ein Ausstellungsraum sowie die Blockstube, in der zum Teil grenzübergreifende Veranstaltungen stattfinden sollen. Als drittes Ziel möchten die Geschäftsstelle und die beiden Partner ein bilinguales Buch zur Restauration von Umgebindehäusern herausgeben. „Wir wollen zeigen, wie man diese Häuser behutsam restauriert, sich alte Bausub­stanz für moderne Nutzung verwenden lässt“, so Gosteli. Doch was ist das Besondere an dieser Architektur? Eines kann man zunächst vorweg nehmen: Es sind alles Unikate.

Grundkonstruktion: Blockstube und Massivteil
Umgebindehäuser sind auf den ersten Blick an ihrem Umgebinde erkennbar. Das sind Holzbögen, die sich an der Fassade um den Bereich der Blockstube reihen. Darüber hinaus vereinen die Gebäude drei verschiedene Bauweisen miteinander. Eine von ihnen ist die Blockbauweise. Die Blockstube ist in jedem ursprünglichen Umgebindehaus vorhanden und galt früher als „die gute Stube“. Sie war Arbeits- und Wohnbereich, hatte eine niedrige Decke und war der einzig beheizte Raum im Haus. Ein Kachelofen gehört demnach zur Grundausstattung dieses Zimmers.

Im Wesentlichen besteht die gute Stube aus ineinander verkeilten Baumstämmen, wie bei einem Blockhaus. Die Holzverkleidung sorgt dafür, dass die Blockstube im Sommer kühl und im Winter wärmespeichernd wirkt. Ein rundum verlaufender Balken trennt sie vom Dach und bei Geschossbauten vom Obergeschoss. Somit bildet die Blockstube das Grundgerüst und ist zugleich ein separater Raum, der nicht direkt mit den anderen Zimmern verbunden ist.

Ein weiteres charakteristisches Merkmal ist das Fachwerk im oberen Bereich des Gebäudes. Dieses ist nicht an allen Häusern zu finden, macht aber – sofern vorhanden – den überwiegenden Teil der Bauten aus. Als Kontrast zur Blockstube besteht ein Umgebindehaus außerdem aus einem Massivbau, der den Bewohnern ursprünglich als Stall oder Lagerraum diente. Dessen Mauerwerk besteht aus einem Gemisch aus Naturstein und Lehm. Die dicke Lehmschicht sorgt für eine ökologische Wärmedämmung und gibt Feuchtigkeit ab statt sie zu speichern. „Somit wird auf natürlichem Weg verhindert, dass sich Schimmel an den Wänden bildet“, sagt Knut Wolf, Architekt des Pilgerhäusls. Der Massivteil wird durch einen durchgängigen Flur von der Blockstube getrennt. Hinzu kommen individuelle Verzierungen in Form von Mustern an der Schieferverkleidung sowie Schnitzereien an den Umgebinden, skulpturartige Türstöcke oder geschwungene Fensterumrahmungen.

Diese praktischen Eigenschaften zogen bereits im Mittelalter fränkische Bauern in die Lausitz. Die Kombination von Blockbau und Fachwerk herrschte bereits im 14. Jahrhundert in Süddeutschland vor. Nach dem Dreißigjährigen Krieg verließen viele Menschen das katholische Böhmen und Mähren sowie Schlesien und siedelten in die protestantische Oberlausitz über. Die Blockstube galt als ideale Variante, sich vor dem rauen Lausitzer Klima zu schützen.

Zur konkreten Entstehung der Umgebindekonstruktion spalten sich die Geister. Die sogenannte „Erschütterungstheorie“ geht davon aus, dass Webstühle in der Blockstube durch ihre Erschütterung das Haus beschädigen und im schlimmsten Fall zum Einsturz bringen könnten. Das Umgebinde wäre demzufolge eine stabilisierende Konstruktionslösung. Da aber nicht alle Umgebindehäuser Weberhäuser waren und einfache Handwebstühle solch immense Erschütterungen nicht verursachen können, wird die Theorie heute verworfen. Eine These, die selten bis gar nicht in Publikationen widerlegt wird, ist die „Materialtheorie“. Sie geht davon aus, dass das arbeitende und sich verändernde Holz sicherheitshalber vom übrigen Bau getrennt wurde und aus diesem Grund die Umgebindekonstruktion entstand. Da die meisten heute noch erhaltenen Häuser erst nach 1700 errichtet wurden, kann ihre ursprüngliche Entstehung im 14. Jahrhundert allerdings nur noch bedingt nachvollzogen werden.

Unterschiede zu Tschechien
Die nordböhmische Umgebindearchitektur unterscheidet sich in bestimmten Punkten von jener in der Oberlausitz. Zu finden sind die tschechischen Bauten besonders im Schluckenauer Zipfel, im Raum Liberec sowie in Gebieten um Česká Lípa. Besonders fallen hier die häufiger auftretenden, umfangreichen Verzierungen und Schnitzereien am Umgebinde und den Giebeln auf. Besonders markant sind auch die weißen Streifen an der äußeren Holzverkleidung. Was hier von Weitem hübsch aussieht, ist eigentlich der weiß verkalkte Fugenverstrich der Wärmedämmung, bestehend aus Lehm, Baumwolle und Stroh. Häufiger als in der Oberlausitz gibt es in nordböhmischen Umgebindehäusern an der Stelle des Massivbaus eine zweite Blockstube.

Auch Knut Wolf stellt eine Besonderheit der Gebäude im Nachbarland fest: „Es ist schön, dass in Tschechien noch viel alte Substanz erhalten ist, weil dort weniger modernisiert wurde.“ So auch die minimalistisch verzierten Türstöcke, die aufwändig geschnitzten Giebel oder die allegorischen Schieferverzierungen im oberen Stockwerk. Wolf begründet diesen Unterschied unter anderem damit, dass zu DDR-Zeiten der Wohnraum knapp war. Es wurde mehr Platz geschaffen, indem Umgebindehäuser seitens der Regierung vergrößert und umgebaut werden durften. „Zudem konnten Gebäude abgerissen werden, sobald auch nur eine Kleinigkeit kaputt war“, betont der Architekt, der vor einigen Jahren selbst ein Umgebindehaus saniert hat. Und er fügt hinzu: „Auch in Tschechien werden Häuser mittlerweile zeitgemäß saniert und mit Kunststoff an den Fassaden versehen.“ Schuld sei die Werbung und die PR, die aus wirtschaftlichen Gründen den Trend zur Modernisierung statt zur Restauration zuließe. Wolf kritisiert das. Für ihn liegt der Charakter dieser Häuser in ihrer natürlichen und individuellen Art. „Die Einmaligkeit besteht darin, dass so ein altes Haus eben auch eine Geschichte hat und Falten – wie ein alter Mensch.“

Mit der Idee des Pilgerhäusls legt der gleichnamige Verein einen Grundstein für die Würdigung der rustikalen Bauten. Und mehr noch: Das „Häusl“ geht über architektonische Parallelen der Nachbarländer hinaus und vereint die Menschen jenseits der Grenzen auf eine geistliche und soziale Weise. Der Hintergrund des Pilgerweges gefällt Jeannette Gosteli: „Den Gedanken auf dem Jakobsweg zu pilgern, finde ich schön. Denn die Grenzüberschreitung ergibt sich allein daraus, dass man gemeinsam auf einem Weg unterwegs ist.“

Tag des offenen Umgebindehauses, 26. Mai 2013, Übersicht der geöffneten Häuser unter www.umgebindeland.de

„Verliebt ins Umgebindeland – Landschaft, Häuser, Menschen“, Graphische Werkstätten Zittau GmbH 2013, 19,95 Euro, ISBN 978-3929744736

Informationen zum Pilgerhäusl unter www.pilgerhaeusl.de