„Die dritte Geißel Gottes“

„Die dritte Geißel Gottes“

Vor 300 Jahren wütete die letzte Pestwelle in Prag. Etwa 20.000 Menschen fielen ihr zum Opfer. Heute erinnern zahlreiche Denkmäler in Böhmen und Mähren an den Schwarzen Tod

27. 11. 2013 - Text: Josef FüllenbachText und Foto: Josef Füllenbach

 

Vor 300 Jahren wurde Prag zum letzten Mal von der Pest heimgesucht. Am 28. September 1713, dem Festtag des Heiligen Wenzel, erreichte die Epidemie mit 285 Toten ihren Höhepunkt. Und klang dann bis ins Jahr 1714 allmählich ab. In Mähren hielt sich die Seuche länger, dort kulminierte sie im Sommer 1715. Erst im Februar 1716 hoben die Behörden das allgemeine Verbot auf, über die Grenze nach Ungarn (und damit damals auch in die Slowakei) zu reisen, weil die Ansteckungsgefahr als vollkommen überwunden galt.

Seit dem frühen Mittelalter raffte die Pest in Europa immer wieder beträchtliche Teile der Bevölkerung dahin. Der „Schwarze Tod“, die schlimmste Pestepidemie von 1347 bis 1353, zur Regierungszeit Karls IV., kostete bis zu einem Drittel der europäischen Bevölkerung das Leben: Etwa 20 von insgesamt 60 Millionen Menschen fanden damals den Tod. Auch Prag und die Länder der Böhmischen Krone waren schwer betroffen. In unregelmäßigen Abständen, oft nur von wenigen Jahren, kehrte die Seuche in der Folgezeit häufig nach Böhmen und in die angrenzenden Länder zurück. Sie galt gewissermaßen als ein Phänomen des Alltagslebens, mit dem jederzeit zu rechnen war.

Aus Istanbul gelangten 1711 erste Nachrichten über einen neuerlichen Ausbruch der Pest ins Habsburgerreich. Bereits aus dem Jahr 1712 datieren Berichte, die Seuche sei über Wien bis nach Mähren vorgedrungen. Im Februar des Folgejahres wurden die Grenzen zwischen Böhmen, Niederösterreich und Mähren geschlossen. Aber alle Vorsichtsmaßnahmen halfen nicht, auch nicht die Einführung eines Gesundheitspasses, mit dem Reisende darlegen mussten, dass sie aus einer pestfreien Gegend kamen (anderenfalls mussten sie sich einer vierwöchigen Quarantäne unterziehen).

Brennpunkt Armenviertel
Im März 1713 verzeichnete man in Prag die erste Erkrankung. In der Schlussbilanz waren allein in Prag rund 20.000 Tote zu beklagen, für Böhmen und Mähren liegen zurückhaltende Schätzungen bei 100.000 Opfern. Unter ihnen mögen viele gewesen sein, die als Kinder und Jugendliche der Pestwelle nur wenige Jahrzehnte zuvor noch glücklich entronnen waren, nun aber dem erneuten und schlimmeren Ausbruch der Epidemie erlagen.

Da der Pestbazillus und die Ansteckungswege erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts entdeckt wurden, vermochten Gesundheitsbehörden und Ärzte bis dahin gegen die Verbreitung der Krankheit wenig auszurichten. Immerhin bestellte man nach dem Auftauchen der ersten Erkrankungen einen Gesundheitsausschuss, einige Behörden wurden aus Prag weiter nach Westen verlagert, beispielsweise nach Pilsen und Rokycany. Wie schon 1680 richtete man in verschiedenen Stadtteilen wieder Lazarette ein. Aber an effektiver Prävention mangelte es ebenso wie an wirksamen Medikamenten. Vielfach weigerte man sich sogar, den Einfall der Seuche wahrzuhaben. So kam noch Anfang Juni 1713 eine Ärztekommission nach der Untersuchung von 35 „mit sehr geschwollenen Köpfen und Bäulen“ darniederliegenden Soldaten zu dem Ergebnis, „dass die Krankheit keine Pestbäule (bubens pestiferii), noch eine ansteckende Krankheit seye“, so der rückblickende Bericht eines Prager Arztes aus dem Jahr 1852.

Neben verschiedensten Kräutern und Tinkturen sowie dem Tragen von Amuletten, besonderen Antipestkreuzen und Schulterkleidern galten vor allem zwei Mittel als wirksamer Schutz vor der Pest: das Gebet und besonders die Anrufung der Pestheiligen sowie zweitens der zeitweise Umzug aus der Enge und dem Schmutz der Stadt aufs umliegende Land. Da Letzteres nur den Wohlhabenden und namentlich dem Adel dank seiner leicht zu isolierenden Landsitze zu Gebote stand, wütete die Seuche vor allem unter den Armen. Diese hatten aufgrund ihrer beengten Wohnverhältnisse und sonstigen Lebensumstände kaum die Möglichkeit, dem täglichen und ständigen Kontakt mit anderen Menschen, kranken oder gesunden, auszuweichen. Dass die Pest, neben Hunger und Krieg die dritte „Geißel Gottes“, in den Armenvierteln und unter den Juden die meisten Opfer fand, fiel schon manchen zeitgenössischen Beobachtern auf, obgleich soziale Gesichtspunkte bei der Analyse des Zeitgeschehens noch nicht die heutige Bedeutung einnahmen. Im August 1713 stellten Ärzte in Prag fest, dass „bis 50 Judenhäusser infiziert seyn, dass das Judenspital mit Kranken angefüllt … sey und dass täglich 6, 7, 8 bis 9 begraben werden.“ Als die Juden einige Wochen später darum baten, auf die geräumige und luftige Kaiserinsel übersetzen zu dürfen, wurde ihnen dies mit der Begründung verwehrt, dass „sie ihre Kleyder, Betten und Bettstellen und andere Sachen über die Brücke mit Beyhülfe der Christen übertragen und überführen lassen müssten, wodurch diese angesteckt würden. (…) Die Juden haben viele Infizierte, sie würden die Luft verpesten, sie würden die Kadaver ins Wasser werfen und den Fluss (…) infizieren.“

Kaiser Leopold I. hatte schon bei der Pest von 1679/80, die Wien besonders schlimm heimsuchte, den Ortswechsel als probate Schutzvorkehrung demonstriert. Im September 1679 zog er mit seinem Hofstaat kurzerhand von Wien nach Prag und, nachdem in Prag sein Kutscher an der Pest verstorben war, weiter nach Pardubice. Aber auch dort holte ihn die Seuche ein, so dass er im Juli 1680 über České Budějovice nach Linz auswich. Die Strategie war erfolgreich, Leopold überlebte die Epidemie um knapp 25 Jahre. Die Flucht aus der verseuchten Stadt als Schutz vor Ansteckung kennt ein berühmtes literarisches Vorbild: Bocaccio lässt in seinem „Decamerone“ eine Gruppe Adliger 1348 vor der Pest aus Florenz in ein Landhaus fliehen, wo sie sich dann durch das Erzählen von 100 Geschichten die Zeit und die Angst vor dem Bazillus vertreiben. Der Prager Adel zeigte sich weniger ideenreich; er hinterließ der Nachwelt keine anregende Novellensammlung vom Lande.

Ärzte flüchten
Was die Pest neben der Unsichtbarkeit ihres Erregers und der Unkenntnis ihrer Ansteckungswege für die vormodernen Gesellschaften so unheimlich machte, das war seit jeher auch die mit ihr einhergehende Störung, ja die Umkehrung gesellschaftlicher Ordnung und Werte. Manche Ärzte versuchten 1713 unter vielerlei Ausflüchten, sich den Anordnungen der Gesundheitsbehörden zum Beistand der Erkrankten zu entziehen. Einige verwiesen auf ihre Kinder und machten ihre „schwächliche Complexion und Kränklichkeit“ geltend. Wieder andere verließen die Stadt, um sich angeblich um ihre ebenfalls aufs Land verzogene Kundschaft zu kümmern. Im August sah sich sogar der Kaiser zu einem Dekret veranlasst, „dass bey diesem bekümmerten Zustand sich keiner aus denen allhiesigen Medicis und Chirurgis aus der Stadt Prag anderwärts hin begeben.“ Das Verbleiben in der Stadt und ihren Dienst an den Kranken verbanden viele Ärzte mit der Forderung beträchtlicher zusätzlicher Zahlungen. Die jüdische Gemeinschaft legte bei der Verwaltung Beschwerde ein, dass die Ärzte sich weigerten, in die Judenstadt zu kommen und Medikamente zu verschreiben. Dem entgegnete die medizinische Fakultät, „dass unter den Juden (…) die Unsauberkeiten allzusehr überhand genohmen, und einen solchen Gestank verursachen, dass man in die Judenstadt zu gehen wohl einen Abscheu tragen könne (…).“ Zudem seien manche Ärzte nicht „ohne Cathar oder andere Krankheit“ von dort zurückgekehrt.

Aus Liebe zum Beruf
Es gab auch Beispiele von Selbstlosigkeit und Aufopferung, unter denen der erst 1710 promovierte junge Arzt Dr. A. Schamsky herausragt. Er meldete sich in Prag freiwillig zur Behandlung der Pestkranken im Lazarett, erkrankte selbst und konnte sich – nach eigener Schilderung – von der Pest heilen. Daraufhin gab er Ende 1713 in deutscher Sprache das Traktat „Freund in der Noth oder kurzer und gründlicher Unterricht, wie jeder bei der grassierenden Seuche sein eigener Medikus sein solle“ heraus. Die Ratlosigkeit der damaligen Medizin dokumentiert auch diese Schrift, die als Ursache der Ansteckung neben dem Wind, der die Pest aus der Türkei, Polen und Ungarn getragen habe, auch den Zorn Gottes, den Einfluss der Sterne und jüdische Pelzhändler anführt. Nach dem Abklingen der Pest in Prag und ihrem intensiven Ausbruch Mitte 1714 in Louny (Laun) ließ sich Schamsky dorthin versetzen, wo er erneut erkrankte und am 2. Januar 1715, noch nicht 28 Jahre alt, verstarb. Für den Paulanerorden bot die Seuche 1680 und 1713 sogar „eine schöne Gelegenheit, ein Opfer der Liebe zu werden. (…) Eines schöneren Todes kann wohl kein Seelsorger sterben, als wenn er im Berufe und in der Ausübung der Liebe gegen seinen Nächsten stirbt.“

Heute erinnern uns überall in Böhmen und Mähren Pestsäulen an die Epidemien von 1680 und 1713/14. Bekannte und künstlerisch besonders wertvolle Beispiele schmücken zentrale Plätze, zum Beispiel in Kutná Hora (Kuttenberg), Olomouc (Olmütz), Pardubice (Pardubitz) oder Teplice (Teplitz). In Prag befinden sich zwei Pestsäulen. Die Dreifaltigkeitssäule auf dem oberen Teil des Kleinseitner Rings wurde bereits 1715 an der Stelle eingeweiht, wo während der Pestzeit die Gottesdienste unter freiem Himmel stattfanden.

Für immer verschwunden?
Wegen der Ansteckungsgefahr waren nämlich Versammlungen in geschlossenen Räumen, also auch in Kirchen, weitgehend untersagt. Der Kleinseitner Gemeinderat hatte Kaiser Karl VI. einen Aufriss der Säule zur Genehmigung vorgelegt und dies mit der Bitte verbunden, er „möge nicht auf die Unscheinbarkeit dieses Werkes achten, denn das Opfer ist der Gemeinde gewiss angemessen. Eine kleinere Stadt kann nicht mehr geben.“ Den Stadtvätern war sicher bekannt, dass Karl VI. schon im Oktober 1713 gelobt hatte, zum Gedenken an den Triumph über den „Schwarzen Tod“ in Wien dem Pestheiligen Karl Borromäus eine Kirche zu errichten. Die zweite, etwas bescheidenere Pestsäule steht auf dem Hradschiner Platz, sie konnte jedoch erst im Mai 1736 eingeweiht werden. Auch hier erinnert die Säule zugleich daran, dass an dieser Stelle zahlreiche Bittgottesdienste stattfanden.

Das Haus zum Goldenen Brunnen an der Einmündung der Seminarsgasse in die Karlsgasse bietet ein schönes Beispiel dafür, wie wohlhabende Bürger ihren Dank für die Rettung vor der Pest zum Ausdruck brachten. Die westliche Fassade ist mit Figurenreliefs reich geschmückt; neben dem Fenster des ersten Stockwerks sind die beiden Pestheiligen Sebastian und Rochus dargestellt, ganz oben über dem dritten Stockwerk liegend die heilige Rosalia, ebenfalls eine Helferin bei Seuchen. Schon 1680 wurde – damals noch weit vor der Stadt – ein neuer Friedhof zur Bestattung der Pesttoten angelegt, der 1713/14 zum selben Zweck erneut genutzt wurde. Heute ist daraus die größte Begräbnisstätte Tschechiens entstanden: die Olschaner Friedhöfe östlich der Innenstadt. An die Pest erinnert hier nur noch die St. Rochuskapelle am nordwestlichen Ausgang des Friedhofs. Aus Anlass der Befreiung von der Pest ließ die Stadt sogar eine Silbermedaille prägen; sie zeigt auf der Vorderseite Prag mit dem Hradschin, auf der Rückseite über einem verödeten Haus den Todesengel, dem die aus den Wolken gestreckte Hand Gottes Einhalt gebietet.

Erlebte Prag, erlebte Mitteleuropa vor 300 Jahren tatsächlich zum letzten Mal diese Heimsuchung durch die Pest? Die damit verbundenen Herausforderungen an menschliche Solidarität und Opferbereitschaft, das Drama des Nebeneinanders von unsäglichem Leid und abgrundtiefer Gemeinheit, von Hilfe und Selbstsucht, von Rettung und Zerstörung? Albert Camus, vor jetzt hundert Jahren geboren, gibt uns mit seinem weltberühmten Roman „Die Pest“ vor dem Hintergrund seiner eigenen Erfahrungen während des Zweiten Weltkriegs die unzweideutige Antwort, „dass der Pestbazillus niemals ausstirbt oder verschwindet, sondern … dass er geduldig wartet, und dass vielleicht der Tag kommen wird, an dem die Pest zum Unglück und zur Belehrung der Menschen ihre Ratten wecken und erneut aussenden wird, damit sie in einer glücklichen Stadt sterben.“