Die Auflösung der Heterogenität

Die Auflösung der Heterogenität

Der polnische Historiker Jan M. Piskorski beleuchtet die Geschichte der Vertriebenen

2. 10. 2013 - Text: Stefan WelzelText: Stefan Welzel; Foto: Siedler Verlag

 

Es ist wahrlich kein singuläres Phänomen des vergangenen Jahrhunderts, auch kein typisch europäisches: Zwangsmigration und gewaltsame Vertreibung. Doch was Jan M. Piskorski, Professor an der Universität Stettin, mit seiner im August auf Deutsch erschienenen Publikation „Die Verjagten – Flucht und Vertreibung im Europa des 20. Jahrhunderts“ beschreibt, ist in dieser Form gewiss neu für die auf ein breites Publikum gerichtete Historiographie. Piskorski widmet sich auf rund 350 Seiten der kolossalen Aufgabe, ein in der Fachwelt wie in der populären Geschichtsschreibung eher wenig beachtetes Thema möglichst breit zu erfassen.

Die so oft als „kurzes 20. Jahrhundert“ beschriebene Zeitspanne zwischen dem Beginn des Ersten Weltkrieges und dem Ende des Kalten Krieges bricht Piskorski auf. Sein 20. Jahrhundert der Vertreibung holt aus bis ins 19. Jahrhundert und endet (vorerst) mit dem Jugoslawischen Bürgerkrieg in den neunziger Jahren – ganz im Sinne der strukturalistischen Idee der „Longue durée“. Der Begriff bezeichnet einen wissenschaftlichen Ansatz, Geschichte als die Verwebung lange andauernder, tief wurzelnder Prozesse zu verstehen und nicht vorwiegend als eine Aneinanderreihung politischer Ereignisse.

Beim Themenkomplex „Flucht und Vertreibung“ einen konkreten Zeitpunkt als Beginn einer „Migrationsepoche“ zu nennen, wäre auch völlig unangebracht. Wie sollte man zum Beispiel die damals vorherrschende Idealisierung homogener Gesellschaften erklären, ohne auf die Zeit der Nationenbildung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einzugehen? Wie könnte man die exzessiven ethnischen Säuberungen des Dritten Reiches überhaupt seriös einordnen, ohne die türkischen Massaker an den Armeniern oder die Gewaltausbrüche der Italiener in Abessinien zu durchleuchten? Natürlich geht das nicht, und auch deswegen verfasste Piskorski ein Buch, in dem er auf Grundlage seines exzellenten Fachblicks auf zahlreiche Aspekte dieser Sachfrage eingeht.

Dies tut er in Anlehnung an die typisch englische Geschichtsschreibung, die sich von der deutschen dahingehend unterscheidet, Informatives mit Unterhaltsamem zu vermengen. Was im hauseigenen Diskurs geschichtswissenschaftlicher Institute nicht erwünscht und noch weniger gern gesehen wird, kommt hier umso mehr zum Zug: die lebhafte Sprache.

Das Bild des Schlüssels
Piskorskis Lieblingsbild ist das des Schlüssels, dessen er sich immer wieder bedient. Es sind die Schlüssel der Haus- und Wohnungseigentümer, die in Westpommern, Thrakien, Bessarabien, Mähren, Siebenbürgern, an der Wolga und an der Donau ihr Heim von einem Tag auf den anderen, ja von einer Minute zur anderen verlassen mussten, um es Neuangesiedelten zu überlassen. Für die Vertriebenen ebenso wie für die Ankömmlinge waren es traumatische Erfahrungen, die Millionen von Menschen quer durch den Kontinent machen mussten.

Es ist spannend, wenn der Autor mit dem Epochenvergleich beginnt und klar macht, wie sehr sich das vergangene Jahrhundert von allen anderen unterscheidet. Noch nie zuvor wurde in einem quantitativ derart unvorstellbar hohen Maße, so allumfassend, brutal und systematisch vertrieben, umgesiedelt und getötet. Piskorski nächster Schritt in seinem chronologischen Abriss führt ihn auf den Balkan, wo sich das Osmanische Reich mitsamt seinen ethnischen, religiösen und kulturellen Hinterlassenschaften nicht mit ein paar Verträgen aus dem Okzident tilgen ließ. Zu jener Zeit galt „Heterogenität als rückständig, während man Homogenität für den Gipfel der Modernität hielt.“ Und der Balkan war insofern das Sodom und Gomorrha. Gesellschaften hätten allumfassend einheitlich zu sein. Der Nationalstaat war die neue Religion, zumindest in Westeuropa. Mit blankem Rassismus sollte man dies noch nicht gleichsetzten, dieser kam erst mit der faschistischen Radikalisierung jenes Gedankens.

Der Zeit des Zweiten Weltkrieges und seiner gravierenden Folgen widmet Piskorski dann auch den Großteil seiner Abhandlung. Dabei streift er auch immer wieder die Geschichte der ethnischen Auseinandersetzungen in der Tschechoslowakei respektive im Protektorat Böhmen und Mähren sowie die Zeit der Vertreibung der Sudetendeutschen danach.

Vermengung der Genres
Sehr nahe geht einem das Buch, wenn der Autor auf die Erfahrungen innerhalb seiner eigenen Familie zu sprechen kommt oder passend aus literarischen Werken zitiert. So erfährt der Leser vom wechselvollen Leben seines die Gestapo-Haft überlebenden Vaters oder dessen Bruder, der für Jahre nach Deutschland zur Zwangsarbeit verschleppt wurde. Es sind jene privaten und persönlichen Geschichten, die der Publikation ihre Würze geben, denn Piskorski gibt sich durchaus Mühe, einen strukturalistischen und fachlich einwandfreien Überblick zu geben. Dies veranschaulicht allein schon der ausführliche Apparat mit Fußnoten, Bibliographie und Bildnachweis.

Allerdings schwächelt „Die Verjagten“ genau in der Verschmelzung der Genres. Der wissenschaftliche Gegenstand, die Thematik, ist einfach zu groß und unübersichtlich. Somit schafft es Piskorski nicht, hinreichend auf einzelne bedeutende Details einzugehen, die für das Verständnis des Gesamtphänomens doch so wichtig wären. Er verheddert sich oft in Ausführungen, die zu sprunghaft erscheinen. Er ist sich dessen aber bewusst und schiebt bei jedem Kapitel sowie Unterkapitel an Anfang und Ende kurze Zusammenfassungen ein. Diese helfen dem Leser zwar, aber lösen das Problem nicht. So „verlässt“ man die Lektüre um viele Eindrücke und ansehnlichen Wissenszuwachs reicher, aber leider auch etwas konfus. Hier wäre mehr Stringenz und inhaltliche Homogenität ganz gut gewesen. Trotzdem: Piskorskis Werk ist eine äußerst lesenswerte Gesamtschau über eine Problematik, die heutzutage – global gesehen – aktueller ist denn je. Leider.

Jan M. Piskorski: Die Verjagten. München 2013, Siedler Verlag, 432 Seiten (mit wissenschaftlichem Apparat), 24,99 EUR,
ISBN 978-3-8275-0025-0