Der Rabbi, der auch Heizer war

Der Rabbi, der auch Heizer war

Nach 22 Jahren tritt Karol Sidon als Landesrabbiner Tschechiens zurück. In der jüdischen Gemeinde ist er nicht unumstritten

20. 8. 2014 - Text: Friedrich GoedekingText: Friedrich Goedeking; Foto: ČTK/Václav Šálek

 

Darf ein Rabbi eigentlich Romane schreiben? Karol Sidon, vor einem Monat noch Rabbiner der jüdischen Gemeinde in Prag und Landesrabbiner für die Tschechische Republik, hatte vor über 50 Jahren mit dem Schreiben begonnen und sich damit einen Namen gemacht. Mit seinem Übertritt zum Judentum, dem Studium der Judaistik und seiner Tätigkeit als Rabbiner ließ sich das Schreiben von Romanen nicht mehr vereinbaren.

In diesem Frühjahr erschien ein fünfhundert Seiten umfassender Thriller, dem man Bestseller-Qualitäten nachsagt. Sein Titel: „Altschulova metoda“. Der Autor: Chaim Cigan. Recherchen der Rundfunkjournalistin Zuzanna Vlckova ergaben jedoch, dass es sich dabei um ein Pseudonym handelt, hinter dem sich Karol Sidon verbirgt. Der Rabbiner wollte offensichtlich vermeiden, als Romanautor bei den Gläubigen Anstoß zu erregen. Ein schreibender Rabbi, der sich zudem wie Sidon dem orthodoxen Judentum verpflichtet fühlt, beschränkt sich üblicherweise auf die Auslegung der heiligen Schriften. Dieser Erwartung hat Sidon durchaus Rechnung getragen, indem er vor zwei Jahren eine viel gelobte Übersetzung der Thora, also die fünf Bücher Mose, ins moderne Tschechisch herausgab.

Sein jüngster Roman erzählt von gläubigen Juden, von Menschen, die in der Geschichte des Judentums eine Rolle gespielt haben, von jüdischer Mystik und Weisheit. Sidon hat diese Themen eingebettet in einen spannend erzählten Thriller, in dem es auch nicht an erotischen Passagen fehlt. Dazu kommen Dialoge, in denen Ereignisse wie die Befreiung der Israeliten aus Ägypten kritisch hinterfragt werden: Wäre zum Beispiel dem jüdischen Volk seine leidvolle Geschichte erspart geblieben, wenn es in Ägypten geblieben wäre und sich dort assimiliert hätte? War es nicht Mose, der die Juden wie ein Diktator zum Auszug gezwungen hat? Und kann man bei ihm nicht schon Züge einer totalitären Ideologie beobachten, nach dem Motto „Ein Gott, ein Volk, ein Führer“?

Als Autor, meint Sidon, dürfe man Ansichten äußern, die sich ein Rabbiner nicht erlauben könne. Er, der sich selbst als großer Anhänger der Science-Fiction-Literatur bezeichnet, wollte in seinem Roman nicht auf die künstlerische Freiheit verzichten und hatte gehofft, seine Autorschaft würde erst nach seinem Rückzug in den Ruhestand bekannt.

Anlässlich seines Rücktritts nahmen tschechische Medien auch das Privatleben Sidons unter die Lupe. Kann sich ein orthodoxer Rabbi dreimal scheiden lassen und dazu noch eine um 43 Jahre jüngere Geliebte haben? Jan Munk, der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde in Prag, nahm Sidon in Schutz: Seinen Rücktritt habe er allein aus Altersgründen eingereicht. Außerdem habe Sidon seit drei Jahren seinen Nachfolger, den Rabbiner David Peters, eingearbeitet, der die besten Voraussetzungen für die geistliche Leitung der Gemeinde mitbrächte.

Spaltung mit Folgen
Karol Sidon wurde 1942 als Kind einer jüdisch-christlichen Familie in Prag geboren. Sein Vater war Jude, die Mutter Christin, sodass er nach den Regeln des jüdischen Religionsgesetzes ein Nichtjude war, da nur Kinder einer jüdischen Mutter als Juden gelten. Der jüdische Vater wurde 1944 nach Theresienstadt deportiert und dort ermordet. Die Mutter versteckte sich mit dem Jungen bis zum Kriegsende auf dem Land. Sidon studierte an der Prager Filmhochschule und schrieb Drehbücher, Hörspiele und Erzählungen, in denen er unter anderem seine Trauer um den verlorenen Vater thematisierte. Als er zusammen mit anderen Dissidenten die Charta 77 unterschrieb, verlor er seine Arbeit. Er wurde Hilfsarbeiter, verdingte sich als Totengräber auf dem jüdischen Friedhof, arbeitete als Heizer in einem Hotel und verkaufte Zeitungen und Zigaretten. 1983 zwang ihn die Staatssicherheit zur Emigration nach Deutschland, wo er in Heidelberg Judaistik studierte.

Als Sidon nach seinem Studium und seiner Ausbildung zum orthodoxen Rabbiner in Jerusalem im Jahr 1990 in seine Heimatstadt zurückkehrte, zählte die jüdische Gemeinde in Prag gerade einmal 800 Mitglieder, deren Durchschnittsalter rund 80 Jahre betrug. Dem Terror der Nationalsozialisten waren über 80 Prozent der Mitglieder zum Opfer gefallen. Antisemitische Aktionen unter dem kommunistischen Regime hatten viele Juden zur Emigration nach Israel veranlasst.

Da es nach der politischen Wende keinen Rabbiner gab, wurde Sidon 1992 Prager Oberrabbiner und gleichzeitig Landesrabbiner. Ihm gelang ein Neuaufbau der Gemeinde, die heute mit einem Durchschnittsalter von 55 Jahren etwa 1.600 Mitglieder umfasst. Gut die Hälfte der Gemeindemitglieder ist mit Nichtjuden verheiratet.

Nachdem Sidon zwölf Jahre das Prager Rabbinat geleitet hatte, spaltete sich die Gemeinde in zwei sich heftig bekämpfende Parteien. Es war ein Konflikt, den Kenner als die tiefste Krise in der tausendjährigen Geschichte der Prager Gemeinde bezeichneten. Kritiker warfen Sidon einen autoritären Führungsstil vor. Außerdem habe er versäumt, neue Mitglieder zu werben. Seine Kontrahenten, die sich um Tomáš Jelínek scharten, konnten Sidons Absetzung erreichen. Es kam zu erbitterten Auseinandersetzungen, die sich nicht nur in heftigen Wortwechseln, sondern auch in Schlägereien mit Verletzten und Polizeieinsätzen äußerten. Nach über einem Jahr gelang es den Anhängern Sidons, ihn wieder in sein Amt einzusetzen. Sie warfen ihren Opponenten vor, die Parole „Mehr Demokratie und mehr Offenheit im Gemeindeleben“ nur als Vorwand benutzt zu haben, um die Prager Gemeinde an die ultraorthodoxe jüdische Bewegung Chabat anzugliedern, die in verschiedenen Ländern versuche, jüdische Gemeinden unter ihre Kontrolle zu bringen. Die Spaltung der Gemeinde konnte bis heute nicht überwunden werden.

In den vergangenen Jahren warnte Sidon wiederholt vor dem Erstarken rechtsextremer Ideologien und kritisierte dabei auch die politisch Verantwortlichen, die dem zunehmenden Antisemitismus und Rassismus gegenüber der Roma-Minderheit im Land tatenlos zusähen. Die gesellschaftliche Integration ist eines seiner wichtigsten Anliegen: Juden dürften nicht als Exoten und Sonderlinge betrachtet werden. „Als Rabbiner bemühe ich mich darum klarzustellen, dass Juden ganz normale Menschen sind, die einen Kopf und zwei Augen haben wie andere auch. Was sie von anderen Menschen unterscheidet, ist ihr Glaube, ihre leidvolle Geschichte und ihr großes Interesse an der Bildung.“

Mit seinem Scharfsinn und Humor hat sich Sidon auch bei Nichtjuden beliebt gemacht. Als er einmal gefragt wurde, warum er Ende der siebziger Jahre zum Judentum übergetreten sei, antwortete er: „Ganz einfach. Als ich 1978 als Hilfsarbeiter unterwegs war, um für eine Firma den Wasserstand der Brunnen zu prüfen, verlor ich meinen Autoschlüssel. Überall habe ich gesucht – vergeblich. Dann wandte ich mich als Ungläubiger an Gott und versprach ihm, wenn er mich den Schlüssel finden ließe, werde ich niederknien und mein Haupt mit Erde bestreuen. Nun, ich habe den Schlüssel wiedergefunden und bin Jude geworden.“

Der neue Oberrabbiner David Peter will seiner Gemeinde „die Schönheiten der jüdischen Lebensweise“ zeigen
Anfang August wurde David Peter auf einer außerordentlichen Versammlung zum Oberrabbiner der jüdischen Gemeinden in Prag gewählt. Er tritt damit die Nachfolge von Karol Sidon an, der Anfang Juli überraschend von seinem Posten zurückgetreten war.

David Peter kam 1976 in einer tschechisch-jüdischen Familie in Prag zur Welt. Zunächst nahm er Tanzunterricht und war für zwei Jahre Mitglied der Balletttruppe des Prager Nationaltheaters. Erst als Erwachsener begann er, sich für seine jüdischen Wurzeln zu interessieren und nahm Unterricht beim Prager Rabbiner Daniel Mayer. 1998 entschied er sich, mit finanzieller Unterstützung der jüdischen Gemeinde Prag, für ein theologisches Studium in Jerusalem. Als er 2011 nach Prag zurückkehrte, wurde er zum Rabbiner der Jerusalemsynagoge ordiniert.
In einem Interview mit der Zeitung „Deník“ erläuterte David Peter, warum er sich für ein 13 Jahre langes Studium in Jerusalem entschlossen hatte: Eine Ausbildung zum Rabbiner sei heute in Europa kaum noch möglich. Man müsse intensiv Hebräisch und Aramäisch lernen, um dann für lange Zeit zehn bis 15 Stunden am Tag die religiösen Texte des Judentums zu studieren.

Von den Prager Gemeindemitgliedern lebe ein größerer Teil nicht nach den Vorschriften der jüdischen Gebote, so Peter. Dazu kommen jüdische Menschen in der Stadt, die nicht der Gemeinde angehören. „Ich möchte auch für diese Menschen da sein“, erklärte der neue Oberrabbiner. Er wolle sie „mit den Schönheiten der jüdischen Lebensweise vertraut machen“.

Eine wichtige Aufgabe sieht Peter im sozialen Bereich. Unterstützung bräuchten seiner Ansicht nach vor allem die älteren Mitglieder, die nach dem Krieg geboren sind. Sie erhalten von offizieller Seite keine Entschädigung und sind auf die Hilfe der Gemeinde angewiesen, vor allem, wenn sie koschere Lebensmittel kaufen wollen. Diese Lebensmittel seien sehr teuer, da sie zum Teil importiert werden müssten und ihre Herstellung und Kontrolle zusätzliche Kosten verursache, so Peter.   (fg/čtk)