Der Alleskönner aus Mähren

Der Alleskönner aus Mähren

Mit Roman Kreuziger fährt zum ersten Mal in der Geschichte der Tour de France ein Tscheche an der Spitze mit

18. 7. 2013 - Text: Stefan WelzelText: Stefan Welzel; Foto: Sjar Adona/flickr.com

Man nennt ihn den „weißen Mythos“ – der Mont Ventoux. Im 14. Jahrhundert beschrieb der italienische Dichter Francesco Petrarca den 1.912 Meter hohen Berg in der Provence als „den Windumbrausten“. 1951 entdeckte man ihn für die Tour de France, das härteste und längste Radrennen der Welt. Seither wurde er 15 Mal vom Fahrerfeld der Tour de France erklommen. Kaum ein Gipfel schrieb im Radsport solch dramatische Geschichten wie jener der 1. Bergkategorie und seinen 1.150 zu bewältigenden Höhenmetern.

Wer nach diesem Höllentrip hinauf in die mondartige Landschaft vorne mit dabei ist, der fährt meist auch um den Tour-Sieg mit. Hier hängten Eddie Merckx und Marco Pantani ihre härtesten Konkurrenten ab oder legte der später des Dopings überführte Seriensieger Lance Armstrong den Grundstein für seinen vierten Toursieg im Jahr 2002. Es waren Franzosen, Italiener, Schweizer, Belgier oder Briten, die heroisch oder tragisch am Berg triumphierten oder scheiterten. Rennfahrer aus dem Osten Europas waren selten bis kaum darunter zu finden. Ein Tscheche sucht man in den Annalen auf den ersten Plätzen am Mont Ventoux vergeblich. Seit vergangenem Sonntag gehört diese Tatsache der Vergangenheit an.

2013 ist ein Jubiläumsjahr für die Tour. Und mit an der Spitze der 100. Ausgabe der Rundfahrt befindet sich auch ein 27-Jähriger aus Moravská Třebová (Mährisch Trübau) – Roman Kreuziger. Der Sohn eines ehemaligen Österreich-Rundfahrt-Siegers nähert sich seit rund sieben Jahren kontinuierlich der internationalen Radsportelite an. Zwischen 2006 und 2010 trat er für das italienische Team „Liquigas“ in die Pedalen. In diese Zeit fiel 2008 bereits der Gesamtsieg bei der Tour de Suisse. Diesem ersten Höhepunkt folgte ein Jahr darauf der Triumph bei der Tour de Romandie. 2011 gewann er     beim Giro d’Italia das Weiße Trikot für den besten Nachwuchsfahrer. Im Alter von 23 Jahren schloss er im Jahr 2009 als erster Tscheche überhaupt die Tour de France als Neuntplatzierter in den Top 10 der Gesamtwertung ab.

Nun folgte bei der diesjährigen „Grande boucle“ ein weiterer Meilenstein in Kreuzigers Karriere. Als stärkster und wichtigster Helfer des spanischen Tour-Mitfavoriten Alberto Contador besetzt er im Team „Saxo Tinkoff“ eine Schlüsselrolle, und diese füllt er mit Bravour aus.

Möglicher Wendepunkt
Im Zeitfahren der 11. Etappe am Mittwoch vergangener Woche zwischen Avranches und dem Mont Saint-Michel hielt sich Kreuziger als 16. wacker und verlor nur etwas mehr als zwei Minuten auf den deutschen Zeitfahrspezialisten Tony Martin.

Die Bestätigung des „Mythos Mont Ventoux“ erfolgte am Sonntag. 13 Kilometer vor dem Ziel ergriff der kolumbianische Außenseiter Nairo Quintana die Initiative und griff an. Die Gesamtführenden reagierten, hielten das Tempo hoch. Contador und Kreuziger fuhren mit um den Tagessieg, ehe der im Gesamtklassement führende Brite Christopher Froome unwiderstehlich anzog und der Konkurrenz enteilte. Am Ende war es ein Rennen, das an Dramatik alles bot, was die Tour de France hergibt. Mittendrin: Roman Kreuziger als Etappenfünfter, der zusammen mit Contador ankam und letztlich anderthalb Minuten auf Froome verlor. Es war wohl die Entscheidung um den Gesamtsieg.

Auf den ersten Blick ist dies eine Enttäuschung für Kreuziger, bei genauerem Hinsehen könnte es allerdings ein Meilenstein und Wendepunkt für seine weitere Karriere bedeuten. Wer nämlich in den härtesten Etappen bei der wichtigsten Rundfahrt der Saison bis zuletzt vorne um den Sieg fährt, der ist für alle Aufgaben gewappnet, die der Radsport bereithält – auch für den Tour-Sieg. Diese Erkenntnis darf Kreuziger mit auf seinen weiteren Karriereweg nehmen. Auch wenn er zur Zeit „nur“ der erste Helfer von Contador ist. In der Gesamtwertung lag Kreuziger bei Redaktionsschluss dieser Ausgabe (Dienstag) auf Rang vier mit einem Rückstand von 4:28 Minuten, nur drei Sekunden hinter seinem Teamkapitän und 14 Sekunden hinter dem Zweitplatzierten Bauke Mollema aus den Niederlanden.

Nach den Qualen des Rennens hinauf auf den Mont Ventoux zollte Kreuziger dem Triumphator Respekt. „Froome war heute einfach der Beste von allen. Er bot eine unglaubliche Leistung“, zeigte sich der Mähre als fairer Verlierer. „Mir selbst war es bei Beginn des Anstiegs zu schnell, ich musste warten, bis ich eine starke Gruppe um mich hatte.“ Die Aussage verdeutlicht, dass Kreuziger noch kein „Kletterer“ wie Christopher Froome oder der Toursieger von 2010 Andy Schleck ist. Kann er sein Niveau in den nächsten Jahren aber halten und irgendwann ein Team um sich bilden, das ihm zuarbeitet, so darf er durchaus davon träumen, igendwann die Tour de France zu gewinnen. Grundsätzlich gilt Kreuziger als Alleskönner, der mit seinen Radfahrer-Gardemaßen von 1.83 Meter und 65 Kilo die besten Voraussetzungen für Topplatzierungen bei Eintagesrennen, Zeitfahren und Rundfahrten besitzt.
Zur Zeit steht mit Alberto Contador sogar im eigenen Team noch ein vermeintlich Stärkerer vor ihm. Doch bei „Saxo Tinkoff“ war seit Saisonbeginn abgemacht, dass Kreuziger bei der Tour de France für Contador fährt, im Gegenzug wird der Tscheche beim den großen Klassikern und Eintagesrennen von seinem Team unterstützt. Das trug ihm im April auch den Sieg beim renommierten „Amstel Gold Race“ ein.

Blick in die Geschichte
Mit diesem Erfolg ist er endgültig in den Kreis der Erlauchten der Radsportelite vorgestoßen und bereits jetzt der erfolgreichste tschechische Radsportler. Vergleiche mit der Vergangenheit erweisen sich als schwierig, denn zur Zeit des Kalten Krieges fuhren kaum mittelosteuropäische Radfahrer Rennen im westlichen Ausland. Und davor (sowie bis 1968) bestritten nur westeuropäische Länderteams die großen Rundfahrten. Auch aus diesem Grund erklärt sich die Siegerliste der Tour de France als eine mit vielen italienischen, französischen oder belgischen Namen. Ab 1969 waren es Profiteams mit den Schriftzügen ihrer Sponsoren, die um den Sieg fuhren. Erst Ende der achtziger Jahre begann sich das Feld zu öffnen. 1990 fuhr mit dem Team „Alfa Lum“ das erste Mal eine Equipe mit, die mit Fahrern aus den ehemaligen Ostblockstaaten zusammengestellt war.

Bei der 100. Tour de France gingen 198 Profis aus 34 Ländern an den Start. Dominiert wird der Sport immer noch von Europäern – vielleicht auch bald von einem Tschechen, der am Mont Ventoux eine weitere Heldengeschichte schreibt und den Gipfel als Erster erreicht.