Den Film im Kopf zum Leben erwecken

Den Film im Kopf zum Leben erwecken

Für das Festival „Saiten des Herbstes“ verlegt Opernregisseur Jiří Heřman Schuberts Liederzyklus „Winterreise“ aus dem Konzertsaal ins Filmstudio

16. 10. 2013 - Interview: Franziska Neudert

Kenner der Musikszene erkiesen ihn zu einem der bemerkenswertesten Opernregisseure Tschechiens. Seitdem Jiří Heřman vor 13 Jahren sein erstes Projekt „Severní noci“ – ein Liederzyklus aus den Werken Schumanns, Ebens und Křičkas – auf die Bühne gebracht hat, gilt der 38-Jährige als Nachwuchstalent im Klassik-Kosmos. Heřman war sowohl im In- als auch im Ausland an renommierten Opernhäusern tätig. Lob erhielt er vor allem für seine Inszenierung von Dvořáks „Rusalka“ und im letzten Jahr für die Aufführung von Brittens „Gloriana“. Mit PZ-Redakteurin Franziska Neudert sprach der Regisseur über Kulturpolitik, die Oper in der Gegenwart und seine aktuelle Inszenierung von Schubert.

Herr Heřman, Sie haben zunächst Gesang in Pilsen studiert, sind dann aber auf Opernregie in Prag umgeschwenkt. Was hat Sie zu der Umorientierung bewogen?

Jiří Heřman: Als Zuschauer habe ich die Oper erst während meines Studiums in Pilsen kennengelernt. Bis dahin existierte sie quasi nur in meiner Vorstellung. Als ich dann zum ersten Mal eine Opernaufführung gesehen habe, war ich sehr enttäuscht. Der Film, der in meinem Kopf ablief, deckte sich überhaupt nicht mit der Inszenierung. Ich entschied mich, ihn zum Leben zu erwecken. Also studierte ich Opernregie.

Wie muss eine Oper heute denn sein, um Menschen noch erreichen zu können?

Heřman: Dafür gibt es kein Patentrezept. Jeder muss sie für sich selbst entdecken. Wichtig sind Vorstellungsvermögen und Offenheit gegenüber der gegenwärtigen Welt. Will die Oper den Menschen etwas sagen, dann müssen Aspekte der Gesellschaft von heute in ihr mitschwingen.

Sie haben die Bürgervereinigung „inspe“ gegründet, deren Aufgabe es ist, alternative, nicht-institutionelle Musik und Theater zu fördern. Was verbirgt sich dahinter?

Heřman: Für mich war es eine Notwendigkeit, mich aus den Fesseln des Theaters zu lösen und eigene Projekte zu realisieren. Ich wollte mich vor allem dem Dialog zwischen Musik und Raum, zwischen Wort und Bewegung widmen. Wir führen Workshops durch, die um die Themen „Bewegung“ und „Lichtdesign“ kreisen und setzen Musikprojekte in alternativen Räumen um. Was mich fasziniert, ist vor allem die Verbindung zwischen Wort, Musik und Bewegung.

Von 2007 bis 2011 waren Sie als künstlerischer Leiter der Oper am Nationaltheater in Prag tätig. Wie sieht die Arbeit an einer traditionellen und eher konventionellen Institution aus? Sind Sie da an Grenzen gestoßen?

Heřman: Das Nationaltheater war für mich ein Traumziel, die Begegnung mit der Realität gestaltete sich von Anfang an aber schwierig, vor allem was die Zusammenarbeit mit den drei Ensembles betrifft. Die Opernproduktionen, die ich gern realisiert hätte, ließen sich weder mit dem zeitlichen noch betrieblichen Rahmen des Theaterrepertoires vereinbaren. Während meiner Tätigkeit konnten wir die Bedingungen aber so gestalten, dass manch hochwertige Opernproduktion geglückt ist. Schließlich konnte ich einige meiner Opernträume erfüllen, wie zum Beispiel „Parsifal“ oder „Gloriana“.

Wie haben Sie das Chaos im Nationaltheater im August wahrgenommen? Kulturminister Jiří Balvín hatte damals den Leiter Jan Burian abberufen, mit der Begründung, er sei ohne reguläres Auswahlverfahren zu seinem Posten gekommen. Daraufhin kündigten zahlreiche Ensemblemitglieder ihren Rücktritt an.

Heřman: Der Konflikt spiegelte dieselbe Situation wider, die ich erlebt habe, als ich das Nationaltheater verließ. Politiker begannen, über das Theater zu entscheiden, obwohl sie nicht die leiseste Ahnung davon haben, wie komplex sich die Arbeit an einer solchen Institution gestaltet – gerade was die langfristige Planung betrifft. Der Rücktritt von Jan Burian hat diese politische Willkür verdeutlicht. Es war eine Entscheidung, die ohne jegliche Kenntnis gefällt wurde. Ich bin froh, dass sich das Blatt am Ende wieder gewendet hat. Nun ist das Theater wieder in den Händen eines erfahrenen Direktors und vor allem auch eines Künstlers.

Für das Festival „Saiten des Herbstes“ inszenieren Sie Schuberts Liederzyklus „Winterreise“ im sogenannten „Holzschuh“, einem komplett aus Holz gefertigten Atelier der Barrandov-Filmstudios. Was hat Sie bewogen, die Vorstellung aus dem Konzertsaal in ein Filmatelier zu verlegen?

Heřman: Wie bereits gesagt, interessiert mich die Kombination von Wort, Musik und Bewegung. Das muss nicht unbedingt Oper sein. Lieder sind für mich eine sehr intime Beichte. Durch sie kann man ungewöhnliche Geschichten und oftmals neue Blickwinkel auf die Welt erfahren. Das Filmstudio in Barrandov wurde mir vom Szenografen Pavel Svoboda empfohlen. Als ich das Atelier zum ersten Mal gesehen habe, war die Entscheidung sehr schnell getroffen. Die „Winterreise“ in einem eher rustikalen, nicht traditionellen Raum zu entfalten, ist faszinierend.

Was begeistert Sie an Schubert? Was macht seine „Winterreise“ in Ihren Augen zu einem zeitgemäßen Werk?

Heřman: Schuberts Werk berührt mich. Die Melodik der Lieder ist höchst suggestiv. Jedes einzelne Lied ist wie ein Gedicht oder eine Geschichte. Sie erwecken in uns die Fähigkeit, das Leben mit all seinem Schmerz und seiner Freude tief einzusaugen. Durch seine Musik lehrt uns Schubert, sich der Einsamkeit zu stellen.

Winterreise, 23. und 24. Oktober, Barrandov-Filmstudios, Atelier 4, 19.30 Uhr, 550–650 CZK, www.strunypodzimu.cz