Das Prinzip Bescheidenheit

Martin Barák backt Strudel, frisch und günstig. Er beweist, dass sich Handarbeit rentieren kann

12. 6. 2013 - Text: Nancy WaldmannText und Foto: Nancy Waldmann

Vielleicht ist es die Bescheidenheit seines Bäckers, die ein guter Strudel braucht. Martin Barák, der einzige in Prag, der nur Strudel macht, ist ein genügsamer, fast scheuer Mensch. Auf den etwa zwölf Quadratmetern seiner Backstube in der Ladenzeile eines Plattenbaus im Stadtteil Žižkov verbringt der kräftige Mann mit den breiten, sanften Gesichtszügen seinen Arbeitstag, allein. Das kleine Verkaufsfenster auf Bauchhöhe verbindet ihn mit der Außenwelt, wahlweise schiebt er den Kunden Apfel-, Quark- oder Mohnstrudel hinüber. Er wickelt die noch warme Teigrolle, eine knappe Elle lang, in Fettpapier ein. Mit singender Stimme verlangt er 42, 46 oder 48 Kronen, je nach Füllung, keine zwei Euro. Die Kunden zahlen und gehen weiter. Barák ist kein Mann für Schwätzchen am Tresen.

Er nimmt den nächsten feuchten Teigfladen aus dem elektrischen Nudelholz, zieht mit ein paar Griffen in der Luft so lange bis er dünn und durchsichtig ist wie ein Kondom, schaufelt gehäckselte Äpfel mit Zucker und Zimt darauf, wickelt sie in den Teig, faltet die Enden zusammen, fertig für den Backofen. „Auf das richtige Mischverhältnis kommt es an“, sagt Barák. Wasser und Mehl etwa zwei zu fünf, ein wenig Öl. Der Teig muss so dünn wie möglich sein, darf aber nicht reißen. „Richtig raus hat man das vielleicht erst beim zehnten Strudel.“ Einen Tag hat Barák gebraucht, um seinen ersten Apfelstrudel richtig hinzukriegen. Nach einem Jahr kam er auf sein jetziges Tempo, eine halbe Minute dauert das Ausrollen und Wickeln bei ihm.

Dass Baráks Strudel gut sein muss, davon zeugt die Schlange, die sich vor seiner Durchreiche des Öfteren bildet. 99 Prozent des Umsatzes erzielt er mit dem Einzelverkauf am Fenster. Unregelmäßig beliefert er Cafés. Je nach Monat kommt Barák auf 22.000 bis 25.000 Kronen brutto, dank der vorteilhaften Ausgabenpauschale für Gewerbetreibende von 80 Prozent bleiben 18.000 bis 19.000 netto – ein gutes tschechisches Durchschnittsgehalt. „Die Größe des Ladens ist genau richtig. Man überarbeitet sich nicht und hat noch genug davon“, sagt Barák. Handarbeit kann sich also in der von Industrieback dominierten Branche auch heute noch lohnen. Wenn man bescheiden ist.

Vergrößern? Auf keinen Fall
Ein Strudel ist eine Frage des Könnens, und auch der Frische. Von den Zutaten her ist es ein Arme-Leute-Essen habsburgischen Ursprungs, das älteste Rezept soll 1896 aufgeschrieben worden sein. Im Tschechischen auch „závin“ genannt, wirbt Barák mit dem etablierteren deutschen Begriff „Štrůdl“ auf seinem Ladenschild. Er verkauft kein prätentiöses Edelprodukt neuen Stils, sondern bietet Hausgemachtes zu einem günstigen Preis. Die Zutaten kauft er samstags billig im Großhandel, Äpfel für 12 Kronen das Kilo, meist polnische oder italienische.

Barák ist gebürtiger Prager, er hat Umweltschutz und Landschaftsgestaltung studiert, aber er war nicht glücklich damit. „Das hätte sich auf dem Dorf ausgezahlt, wo man draußen im Wald hätte arbeiten können“, seufzt er. „In der Stadt gibt es in der Branche nur schlecht bezahlte Bürojobs.“ Da bot ihm sein Schwiegervater an, die Strudel-Bäckerei zu übernehmen. Barák gefiel die Idee, sein eigener Chef zu sein. Und als Geschäftsmann war es für ihn ein Glück. Er konnte den Laden samt Inventar erben: Ofen, Nudelholz, Apfelhäcksler, den mechanischen Portionierer und die Teigmischmaschine, noch aus Zeiten des Kommunismus, die eigentlich für Pizza bestimmt ist.

Auch das Knowhow bekam er kostenlos. Eine Bäckerlehre ist nicht nötig, man braucht nur fünf Jahre das Patronat eines Fachmanns. Der Laden bot ein Auskommen, seit 1993 buk der Schwiegervater hier Strudel, zunächst nur den Klassiker Apfelstrudel, vor zehn Jahren kamen Mohn- und Quarkfüllung hinzu. Barák hat daran nichts geändert. „Natürlich ist mein Strudel ein bisschen anders als der vom Schwiegervater“, sagt er. Manche alte Kunden blieben weg, als er übernahm. Dafür kamen neue. Seit fünf Jahren steht Barák nun in der Strudelbude. Montag bis Freitag von morgens halb acht bis fünf Uhr abends, eine Stunde Mittagspause. Wenn er mal zum Arzt muss, hängt er einen Zettel ans Fensterchen.

Der junge Mann merkt offenbar nicht, wie die Zeit vergeht. „Bin ich 32 oder schon 33 Jahre alt?“, überlegt er. Stressig werde es nur vor Weihnachten, wenn viele bestellen. Im Herbst, so Barák, käme immer ein Umsatztief. Dann denkt er doch mal darüber nach, etwas Neues anzubieten. Einen salzigen Strudel, mit Spinat. Vier Füllungen gleichzeitig – das wäre ihm allerdings auf Dauer zu anstrengend. Und den Laden erweitern will Barák auf keinen Fall.

Eine Sache hat er doch geändert. Man sieht es draußen am überklebten Schild. Nach drei Jahren verkürzte er die Öffnungszeiten um eine Stunde, bis 18 Uhr arbeiten war ihm zu lange. Barák ist gern ausgeruht.