Das Kloster im Dorf lassen

Das Kloster im Dorf lassen

Břevnov ist eines der ältesten Viertel Prags. Es hätte vielleicht nie eine Stadt werden sollen. Das merkt man bis heute

26. 7. 2016 - Text: Corinna Anton, Titelbild: VitVit, CC BY-SA 4.0

Etwa zehn Minuten zu früh steigen die meisten Touristen aus der Straßenbahn mit der Nummer 22 aus. Dabei müssten sie nur an der Burg vorbei, ein paar Stationen weiter bis Marjánka zum Beispiel oder bis U Kaštanu. Dort, im Stadtteil Břevnov, würden sie das magische Prag finden, das sie im Goldenen Gässchen vergeblich suchen.

Manchmal verbirgt sich der Zauber vergangener Zeiten zwischen den Hochhäusern. Oder es steht nur noch eine winzige Kapelle gesäumt von zwei Kastanien­bäumen in einem Meer von Plattenbauten. Aber an anderer Stelle sind die engen Gassen und die verwinkelten Häuser in Břevnov erhalten geblieben. Und im Gegensatz zu vielen Straßen in der Altstadt und auf der Kleinseite sind sie noch nicht zur Fotokulisse verkommen. In den Höfen hängt Wäsche, auf den Dachterrassen sitzen statt Touristen „echte“ Bewohner, durch die Gärten schleichen in der Dämmerung Katzen. Die Nachbarn verschwinden nicht wie gespenstische Schatten hinter grauen Türen, sondern kommen auf der Straße und in den Parks zusammen. Es geht fast zu wie in dem Dorf, das Břevnov einst war, bevor es „aus Versehen“ zur Stadt erhoben wurde. So heißt es zumindest in der Legende.

Die heutige Břevnov-Straße im Jahr 1917

Im Jahr 1907 soll es passiert sein, als Kaiser Franz Joseph zu Besuch kam. Er sprach vor einer Menschenmenge; der Ort hatte damals etwa 9.000 Einwohner. Der Herrscher war zufrieden mit dem, was er sah, und wollte sich bedanken. Dann lobte er – angeblich, weil sein Tschechisch nicht so gut war – den schönen Empfang, den ihm die „Stadt Břevnov“ bereitet habe. Der damalige Bürgermeister, so erzählt man sich, habe den Versprecher genutzt und dem Kaiser unverzüglich gedankt, dass er das Dorf zur Stadt erhoben habe. Lange Bestand hatte die „Stadt Břevnov“ allerdings nicht. Seit 1922 gehört sie zu Prag.

Nichtsdestotrotz sei Břevnov für viele noch heute ein Dorf, sagt Jan, der seit ein paar Jahren im Viertel lebt. „Es ist ein schöner Ort zum Wohnen“, findet der junge Vater. Früher hat er selbst im Garten des Klosters gespielt, wenn er bei seinen Großeltern zu Besuch war. „Vor allem mit Kindern kann man hier gut leben, es ist sehr grün und es gibt eine lebendige Nachbarschaft“, erzählt der 35-Jährige.

Besonderen Charme haben die Grundstücke zwischen den Straßen Fastrova und Nad Tejnkou.

Offene Höfe
Für letzteres sorgen zum Beispiel die Initiative „Nesedím sousedím“ (frei übersetzt: „Zusammensitzen statt rumsitzen“), die regelmäßig ein großes Frühstück im hussitischen Pfarrhaus organisiert, und der Verein „Sdružení Tejnka“, der schon zweimal zum Festival „Montmartre“ geladen hat – mit offenen Höfen und Kunst auf der Straße. Auch Jan engagiert sich im Viertel, unter anderem für ein Projekt, das ökologische Landwirtschaft unterstützt. Die Mitglieder zahlen einen Jahresbeitrag an Bauern in Mittelböhmen, dafür bekommen sie jede Woche eine Kiste voll Gemüse.

Es überrascht nicht, dass sich in so einem Viertel längst nicht mehr nur Alteingesessene wohlfühlen, sondern auch viele zuziehen – junge Familien zum Beispiel, aber auch Künstler, Studenten, Ausländer. „Es ist hier nicht so wild wie in Vršovice“, sagt Jan. Aber günstig sind die Wohnungen im beschaulichen Břevnov mittlerweile nicht mehr. Die Villen und Altbauten sind gefragt. Die Investoren liegen auf der Lauer.

Erst kürzlich entstand zum Beispiel ein Wohngebäude – ausgerechnet an der Patočka-Straße, die wohl die schmutzigste und lauteste im Viertel ist, seit der Tunnel Blanka eröffnet wurde und der Hauptverkehr hier durchrollt. Es werde jeder Zenti­meter genutzt, ärgert sich Jan. Auch in der Straße Na Petynce soll ein altes Haus abgerissen werden, um Platz für ein mehrstöckiges Bauprojekt zu schaffen.

Investoren haben das Viertel längst entdeckt. Jeder Meter wird genutzt.

Die Siedlung Tejnka ist davon bisher verschont geblieben – mit ein bisschen Glück und weil die Bürger mit dem Verein „Sdružení Tejnka“ aktiv dafür kämpfen. Dabei stand es schlecht um die kleinen Häuser und Höfe, die Břevnov bis heute seinen dörflichen Charakter verleihen. In den achtziger Jahren war bereits beschlossen, dass die Siedlung abgerissen und alle Bewohner umziehen sollten. Die Menschen hörten damals auf, in ihre Häuser zu investieren und warteten ab. So blieb ihr ursprünglicher Zustand erhalten. Und die politische Wende sorgte dafür, dass es doch nicht zum Abriss kam.

„Unter dem Knüppel“
Andernorts sind die alten Siedlungen rechtzeitig vor der Wende den Plattenbauten gewichen. So zum Beispiel in der Straße Anastázova, die im Osten direkt an den Klostergarten angrenzt. Errichtet wurden die Häuserblöcke in den achtziger Jahren für die Angestellten des Innenminis­teriums. Bis heute ist der Siedlung deswegen der Beiname „Pod obuškem“ geblieben, auf Deutsch „Unter dem Knüppel“; und bis heute gewinnen die Kommunisten hier bei den Wahlen noch immer relativ viele Stimmen. Ansonsten wählt der sechste Stadtbezirk, zu dem Břevnov gehört, vor allem TOP 09 und ANO. Vergleichsweise stark vertreten sind zudem die Grünen.

Irgendwo auf dem Land? Nein, auch mitten in Břevnov sieht es so aus.

Mal ist Břevnov ein Dorf und dann wieder nicht; an der Straße Bělohorská zum Beispiel, an der die Straßenbahn 22 bis zur Endhaltestelle Bílá hora fährt, gibt es alles, was der Großstadtmensch so braucht: viele kleine Lebensmittelläden, griechische Feinkost, Wein, Bioprodukte, Döner, asiatisches Fastfood. Und seit kurzem auch ein Kino mit Café und Theater im Hotel Pyramida. Aber auch die Oasen der Ruhe wie den Friedhof hinter dem Kloster, auf dem der Lieder­macher Karel Kryl, der Dichter Josef Topol und der Philosoph Jan Patočka liegen. Und natürlich das Kloster selbst samt Hotel, Gaststätte und Garten, das im zehnten Jahrhundert gegründet wurde und heute wieder von Benediktinermönchen bewohnt wird.